«Schlechte Dinge vergisst man»
15.07.2025 Region Unterfreiamt, Villmergen«Hier bin ich zu Hause»
Gertrud Fischbach hat ihr ganzes Leben in Villmergen verbracht. Sie wollte nie weg aus dem Dorf. Wozu auch? «Hier bin ich zu Hause», sagt sie. So wie ihr geht es vielen Menschen im Freiamt. In der Sommerserie «Weisch ...
«Hier bin ich zu Hause»
Gertrud Fischbach hat ihr ganzes Leben in Villmergen verbracht. Sie wollte nie weg aus dem Dorf. Wozu auch? «Hier bin ich zu Hause», sagt sie. So wie ihr geht es vielen Menschen im Freiamt. In der Sommerserie «Weisch no» stellen wir Personen vor, die ihrem Wohnort stets treu geblieben sind. --chh
Sommerserie «Weisch no» mit Gertrud Fischbach aus Villmergen
Aufgewachsen im Villmerger Hinterdorf im Restaurant Burehof hat Gertrud Fischbach später viele Jahre an der Alten Bahnhofstrasse gewohnt und dort eine Praxis für Fusspflege betrieben. Heute lebt sie im Alterszentrum Obere Mühle. Was im Dorf passiert, interessiert die 86-Jährige noch immer.
Chregi Hansen
Zuletzt wird das Gespräch zu einem richtigen Familientreffen. Während Gertrud Fischbach dem Vertreter der Zeitung aus ihrem Leben berichtet, stossen Bruder Ernst und Schwester Alice mit ihrem Mann dazu – sie sind zum Mittagessen verabredet. Fehlt eigentlich nur noch Schwester Hildegard, die mit Otto Sorg senior verheiratet ist. Während Hildegard, Gertrud und Ernst ihr ganzes Leben im Dorf verbracht haben, ist Alice schon früh in den Kanton Uri gezogen. «Der Liebe wegen», wie sie augenzwinkernd gesteht. Und weil sie die Berge mag.
Wegziehen aus Villmergen, das war für die ältere Schwester Gertrud kein Thema. «Für mich gab es keinen Grund dazu. Mir gefiel es hier, ich kannte hier fast alle Leute», sagt sie mit einem Lächeln. Nur nach der Lehre, die sie nach der Schule in Baden absolviert hat, zog sie für ein Jahr in die Stadt, weil sie dort weiterbeschäftigt wurde. Doch als sie die Möglichkeit erhielt, in ihrem Heimatort eine Praxis als Fusspflegerin zu eröffnen, kehrte sie wieder zurück. Erst ins Elternhaus, dann in eine eigene Wohnung im Zentrum. Doch, in Baden hätte es ihr schon auch gefallen, sagt sie. Aber Villmergen, das ist eben ihr Zuhause. Noch heute nimmt sie regelmässig den Weg auf den Dorfplatz auf sich, um andere zu treffen. Vor allem wenn es ein Fest gibt, etwa während der Fasnacht.
Von klein auf mitgearbeitet
Aufgewachsen ist sie als zweitältestes von vier Kindern im ehemaligen Restaurant Burehof. Die Eltern führten sowohl die Beiz wie auch den Bauernhof. «Wir mussten von klein auf mithelfen. In beiden Betrieben», erinnert sich Gertrud Fischbach. Das sei nicht immer einfach gewesen, gibt sie zu. Während die Freundinnen sich zum Spielen trafen, musste sie anpacken zu Hause. Aber das war eben so. Umgekehrt erlebte sie in der alten Quartierbeiz auch viele schöne Momente. Überhöcklen war noch ein Kavaliersdelikt. «Es kam schon vor, dass spätnachts jemand kam und uns warnte, dass der Polizist auf dem Weg ist. Dann haben wir die Gäste nach oben in die Stube geschickt und so getan, als wären wir am Putzen. Wenn der Polizist weg war, ging das Fest weiter», erzählt sie schmunzelnd.
Zu der Zeit habe es im Dorf noch ein Dutzend Beizen gehabt – heute seien die meisten verschwunden, bedauert sie. Auch die vielen kleinen Dorfläden gibt es nicht mehr. «Unsere Eltern haben uns damals aufgetragen, beim Einkaufen die Läden von möglichst allen zu berücksichtigen. Denn die meisten Betreiber kamen auch als Gäste in unser Restaurant», berichtet Fischbach. Heute erledigt die Seniorin ihre Einkäufe meistens im Coop. Sich über diese Veränderungen beschweren mag sie nicht, «es ist eben so». Sie findet es bloss schade, dass heute vieles etwas unpersönlich geworden ist. «Früher kannte man einander noch. Heute hat es eben viele Zugezogene», sagt sie. «Sogar Wohler», fügt sie lachend an. Das sei in früheren Zeiten nur sehr selten vorgekommen. «Wir hatten immer den Eindruck, dass sich die Wohler für etwas Besseres halten.» Aber nach einiger Zeit hätten diese sich gut im Dorf integriert.
An der Fasnacht in ihrem Element
An die Schulzeit hat Gertrud Fischbach gute Erinnerungen. Die Lehrer seien zwar streng gewesen, aber sie selber gehörte eher zu den braven Kindern. Und noch heute würde sich ihre Klasse jedes Jahr einmal treffen, zwölf von ihnen sind noch immer am Leben. «Diese Anlässe sind immer schön», sagt Fischbach. Überhaupt hat sie viele gute Erinnerungen an die alten Zeiten. Sie hat sich im Turnverein und in der Trachtengruppe engagiert, war an jeder Fasnacht mit einer eigenen Gruppe aktiv dabei. Natürlich war sie auch beim Güüggen an vorderster Front mit dabei. Noch heute blüht sie während der Fasnachtszeit auf und glänzt in ihrem Kostüm und dem passenden Hut. Heute begnügt sie sich aber mit der Zuschauerrolle, dies auch beim Trachtenverein und den Turnern. «Was sollen die Jungen mit einer so Alten wie mir. Mir reicht die Aktivierung hier in der Oberen Mühle», sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln.
Villmergen sei ein guter Ort zum Leben
Stolz ist sie auf ihren beruflichen Erfolg. 53 Jahre, also weit über das Pensionsalter hinaus, hat sie als Podologin gearbeitet. «Die Praxis florierte, ich hatte Kundinnen aus der ganzen Region», berichtet sie. Darum kam es für sie auch nie infrage, später das elterliche Restaurant zu übernehmen. Schliesslich führte der Bruder den Hof weiter und die Beiz wurde verpachtet. Dank ihrer Praxis und dem Engagement in den Vereinen wusste Gertrud Fischbach immer, was im Dorf lief. Auch besuchte sie regelmässig die Gemeindeversammlung, nachdem die Frauen endlich die Stimmberechtigung erhalten hatten. «Ich war unglaublich stolz, als ich das erste Mal den Abstimmungszettel in die Urne legte», erinnert sie sich. Wobei nicht alle Männer Freude hatten an dieser Entwicklung. «Villmergen war damals schon eher konservativ», so ihre Erfahrung. «Heute ist das nicht mehr so.»
Selber politisch aktiv werden, diesen Wunsch hatte sie nie. Die Gemeinderäte hätten eigentlich immer einen guten Job gemacht, betont sie. Und was gefällt ihr nicht so in ihrem Dorf? Gertrud Fischbach denkt lange nach. «Eigentlich nichts», so ihre Antwort. Villmergen sei ein guter Ort zum Leben, sagt sie mit Überzeugung. Zudem habe sie sich zum Motto gemacht, nicht zu lange über Negatives nachzudenken, sondern sich an das Positive zu halten. Daran hält sie auch in diesem Gespräch fest. Nur einmal wird sie ganz kurz melancholisch – als es darum geht, warum sie das ganze Leben ledig blieb. Gertrud Fischbach war in jungen Jahren verlobt, doch der Auserwählte verstarb noch vor der Hochzeit. «Danach gab es keinen anderen mehr», sagt sie mit leiser Stimme.
In der Oberen Mühle gefällt es ihr
Die Villmergerin hat fast ihr ganzes Leben mitten im Dorf verbracht, direkt beim früheren Bahnhof. Die WM-Bahn hat sie früher selbst viel benutzt, gerade in ihrer Lehrzeit. Das sei zu Beginn eine rechte Schüttelbahn gewesen, später dann aber durchaus bequem. Das Rattern und Pfeifen und die vielen Leute am Bahnhof haben sie nie gestört – viel Betrieb kannte sie schon aus ihrer Kindheitszeit im Restaurant. Das halbe Dorf traf sich damals im «Burehof». Ruhige Momente gab es eher weniger. «Wenn ich nochmals zur Welt kommen würde, dann bitte nicht als Tochter eines Beizers», sagt sie darum mit einem Schmunzeln.
Gertrud Fischbach ist froh, kann sie es jetzt ruhiger nehmen, sie fühlt sich wohl in der Oberen Mühle, wohin sie vor zwei Jahren gezügelt ist. Sie kennt die meisten Bewohner hier. Und die meisten kennen sie, grüssen beim Vorbeigehen. Villmergen sei eben ihre Heimat, betont sie nochmals. Dann aber ist es Zeit zum Mittagessen, die Geschwister und der Schwager warten schon. Ob denn die Schwester wirklich so brav war, wie sie sich im Gespräch gegeben habe, will der Reporter von ihnen noch wissen. Das Schmunzeln in den Gesichtern ist Antwort genug.
«Weisch no»
In der diesjährigen Sommerserie «Weisch no» treffen sich Redaktoren und Redaktorinnen mit Menschen, die (fast) ihr ganzes Leben im gleichen Dorf verbracht haben, und sprechen mit ihnen darüber, wie es in ihrem Dorf früher ausgesehen hat, welche Erinnerungen an die alten Zeiten sie haben, was sie allenfalls vermissen, was heute vielleicht besser ist als früher und vielerlei mehr.