Umgang mit dem Unvorstellbaren
20.06.2025 Schule, Jugend, MutschellenTod und Trauer
Die Schulleitungen der Schulen am Mutschellen luden zu einem Themenelternabend ein. Auslöser dafür war das tragische Ereignis in Berikon. Fachpersonen aus der Notfallpsychologie, dem Kindesschutz und dem Jugendstrafrecht beantworteten Fragen zum ...
Tod und Trauer
Die Schulleitungen der Schulen am Mutschellen luden zu einem Themenelternabend ein. Auslöser dafür war das tragische Ereignis in Berikon. Fachpersonen aus der Notfallpsychologie, dem Kindesschutz und dem Jugendstrafrecht beantworteten Fragen zum Umgang mit Krisen. --sab
Elternabend der Schulen Mutschellen zum Thema Krisen, Tod und Trauer
Der tragische Todesfall der 15-Jährigen beschäftigt die Menschen noch immer. Viele Eltern fühlen sich im Umgang solcher Krisen mit dem eigenen Kind unsicher. Die Schulleitungen der Schulen am Mutschellen organisierten eine «Talkrunde» mit renommierten Fachpersonen, die versuchten, Licht ins Dunkel zu bringen.
Sabrina Salm
Sonntagabend, 12. Mai. Peter Kriemler, Gesamtschulleiter der Kreisschule Mutschellen, erhält ein Telefon, das wohl keiner je erhalten möchte. Er wird vom tragischen Ereignis in Berikon informiert. Ein Mädchen stirbt an Stichverletzungen, das andere steht unter Tatverdacht. Sowohl die 15-Jährige als auch die 14-Jährige waren Schülerinnen an der KSM. Kriemler, der zu diesem Zeitpunkt erst eine Woche die Leitung ad interim übernommen hatte, musste alles in die Wege leiten, um für den nächsten Schultag gewappnet zu sein. «Wir trafen uns am Montagmorgen um 5.30 Uhr in der Schule für eine weitere Besprechung», erklärt Kriemer, der auch diplomierter Familientherapeut ist, am Elternthemenabend der Mutscheller Schulen. Mit dabei war auch der Schulvorstand. «Sofort wurde ein Careteam aufgeboten und Lehrer abbestellt, um die Pressemeute im Zaun zu halten und vor allem die Schülerinnen und Schüler zu schützen.»
Ohnmacht gespürt
Die meisten Jugendlichen hatten bereits Kenntnis vom Delikt. Einige waren sehr still, fast apathisch – andere kamen mit einem hohen Aggressivitätslevel in der Schule an. «Man spürte ihnen die Anspannung, die Ohnmacht an.» Die Schüler wurden sofort in ihre Klassenzimmer genommen. Wie der Gesamtschulleiter erzählt, habe man sie betreut, Gespräche angeboten, geschaut, wer was braucht. Auch in den darauffolgenden Tagen waren Careteams vor Ort. Gewissen Schülern wurde freigestellt, ob sie in die Schule wollen oder nicht. «Wir haben auch nicht darauf gepocht, dass der normale Schulalltag sofort wieder einkehrt.»
Klar, der Themenabend mit Talkrunde, die aus Fachpersonen der Notfallpsychologie, dem Kindesschutz und dem Jugendstrafrecht bestand, kam durch den Fall in Berikon überhaupt zustande. Trotzdem hielt Simon Zehnder, Co-Schulleiter der Schule Rudolfstetten, fest, dass es nicht um das Tötungsdelikt an und für sich geht, denn neue Erkenntnisse und Antworten habe man nicht. «Wir wollen hier auch nicht Kategorisieren und von Opfer und Täter sprechen. Denn wir wissen nach wie vor nicht genau, was passiert ist.» Das Einzige, was man wisse, ist, dass es ein unvorstellbares Ereignis ist, das alle erschüttert hat. «Uns geht es heute darum, von Fachexperten Antworten auf Fragen im Zusammenhang mit dem Umgang zu erhalten», so Zehnder, der die Moderation der Talkrunde übernahm. «Denn uns Schulleiter erreichten viele Telefone von besorgten Eltern, die wissen wollten, wie sie dieses tragische Ereignis ihren Kindern erklären sollen.» Was sind normale Reaktionen? Wie kann ich mein Kind begleiten, damit es sich psychisch gesund entwickelt? Wann braucht es Hilfe von Fachpersonen?
Die Vorstellungskraft gesprengt
Einer der renommiertesten Notfallpsychologen der Schweiz, Urs Braun, kann die Überforderung vieler Eltern nachvollziehen. «Dieses Ereignis hat die Vorstellungskraft massiv gesprengt. Es ist etwas Nie-Dagewesenes. Etwas Unvorstellbares.» Heftigste Gefühle nach einem solchen Ereignis sowie Schlafstörungen, Verwirrungen und Kopfkino seien normale Reaktionen. «Wenn sie jedoch länger als sechs Wochen anhalten, sollte man sich Hilfe holen.» Jeder brauche einen anderen Zeitpunkt, um darüber zu reden und einen anderen Gesprächspartner. «Besonders Jugendliche wenden sich eher an Kollegen als an die Eltern», weiss Johannes Gerber, Fachpsychologe für Kinder und Jugendliche beim Kanton Aargau. «Wichtig ist, dass sie reden.» Seinen Kindern soll man signalisieren, dass man für sie da ist, wann immer sie einen brauchen. «Bleiben Sie mit ihrem Kind in Kontakt.» Wenn dann die Kinder Fragen stellen, auf die man als Eltern die Antwort selbst nicht weiss? Dies sei eine brennende Frage der Eltern, weiss Eveline Urech Wieser, die gemeinsam mit dem Elternforum Fragen für die Talkrunde gesammelt hat. Braun: «Den Kindern ehrlich antworten. Auch wir wissen nicht alles.»
Schutz höher als Bedürfnis
«Das Unwissen darüber, was geschehen ist, ist auch das, was die Schülerinnen und Schüler stark beschäftigte», so Johannes Gerber, der die KSM seit dem Ereignis begleitet. Es liege in der Natur des Menschen, gesicherte Informationen haben zu wollen. «Der Mensch möchte Geschichten immer abschliessen. Wenn der Ausgang offen bleibt, lässt es einen nicht in Ruhe», erklärt Urs Braun und fügt an: «Doch man wird lernen müssen, damit zurecht zu kommen.» Im Jugendstrafrecht ist klar geregelt, dass die Öffentlichkeit nicht darüber informiert wird. «Der Schutz der jugendlichen Personen ist höher als jener, unser Bedürfnis zu befriedigen», verdeutlicht Klaus Mayer, Fachpsychologe für Rechtspsychologie. Wichtig sei, zwischen Fantasien und Tatsachen eine Abgrenzung zu machen. «Natürlich gibt es verschiedene Theorien in unseren Köpfen. Aber man muss Fakten und Möglichkeiten unterscheiden können.»
Viele Jugendliche hätten Angst, dass ihnen das auch passieren könnte. «Das Risiko ist nicht hoch. Wir sprechen hier von einem singulären Fall», so Mayer. Doch die Emotion Angst gehöre dazu. Die Fachpersonen raten dazu, sich mit der Angst auseinanderzusetzen und sie nicht zu vermeiden. «Angst ist ein ganz wichtiges und gutes Gefühl», sagt Urs Braun. «Es hilft, zu überleben.» Wenn man lerne, mit der Angst umzugehen, werde sie ein guter Kollege. «Wenn man sie vermeidet, wird sie ein Schreckgespenst.»