Tragische Helden
11.11.2022 Fussball, SportFussball, Schweizer Cup, Achtelfinal: FC Wohlen – Servette Genf, 2:5 nach Verlängerung (1:0, 1:1)
Wahnsinn. Drama. Und am Ende bleiben Stolz und Enttäuschung. Der FC Wohlen verzückt die Fussballschweiz in der ersten Halbzeit und dominiert eines der ...
Fussball, Schweizer Cup, Achtelfinal: FC Wohlen – Servette Genf, 2:5 nach Verlängerung (1:0, 1:1)
Wahnsinn. Drama. Und am Ende bleiben Stolz und Enttäuschung. Der FC Wohlen verzückt die Fussballschweiz in der ersten Halbzeit und dominiert eines der besten Teams des Landes. Ein 17-Jähriger trifft. Und ein Routinier wird zur tragischen Figur.
Stefan Sprenger
Was ist denn hier los? Die 1200 Zuschauer reiben sich die Augen. Der FC Wohlen dominiert Servette Genf. In der ersten Halbzeit brennen die Servette-Fans ein Feuerwerk auf den Rängen ab, auf dem Platz zündet der FC Wohlen die Rakete. In der 12. Minute explodiert die Stimmung. Alessandro Vogt vernascht seinen Gegenspieler, zieht nach innen und trifft zum 1:0 für Wohlen. «Ich habe es einfach mal probiert», sagt das 17-jährige Eigengewächs des FCW. Und es hat geklappt. Nach Spielschluss wollen alle etwas von Vogt, gar dem Schweizer Fernsehen darf er ein Interview geben. «Ich kann das alles gar nicht richtig glauben», sagt Vogt, der von einer Profikarriere träumt. Er lacht, ist happy über sein Tor. Und doch mischen sich andere Gefühle in seine Stimmung. «Wir hätten das Spiel in der ersten Halbzeit entscheiden sollen», meint er leicht enttäuscht.
Damit hat er so was von recht. Servette Genf, aktuell auf dem 2. Rang der Super League, wird total zerzaust. Die Wohler setzen ungeahnte Kräfte frei und spielen fantastischen Fussball. Die Offensive wirbelt. Bestes Beispiel: Nathan Tayey vernascht reihenweise Gegenspieler und ist kaum zu stoppen. Und hinten ist alles dicht. Die Innenverteidiger Alban Pnishi und Anatolyi Kozlenko hauen alles raus, was in die gefährliche Zone kommt.
«Wir müssten 3:0 führen»
Und im Angriff müsste der FC Wohlen unbedingt das zweite Tor machen. Momo Seferi, das 27-jährige Eigengewächs des FCW, wird zur tragischen Figur. Nach einem perfekten Vorstoss von Tayey ist er völlig alleine vor dem Servette-Tor. Doch Genf-Goalie Edin Omeragic pariert mit dem Fuss. Eine sensationelle Parade. Doch er kriegt sogar noch eine bessere Möglichkeit, die Fussballwelt auf den Kopf zu stellen. Nach 27 Minuten ist die Servette-Abwehr fahrlässig. Lulzim Aliu fängt einen Rückpass ab und wird gefoult. Penalty. Seferi schnappt sich den Ball. «Ich wollte Verantwortung übernehmen und ich war sicher, dass ich ihn reinmache», sagt er. Doch er setzt den Ball an den Pfosten. «Bitter. Brutal. Es tut mir leid. Ich werde einige Tage brauchen, um das zu verdauen», meint Seferi.
Der FC Wohlen belohnt sich zu wenig für diesen heroischen Auftritt in der ersten Halbzeit. Es steht nur 1:0 gegen eines der besten Teams aus der Schweiz. Servette hat im ersten Durchgang nur eine richtig gute Torchance, doch Ronny Rodelin scheitert an FCW-Goalie Anton Sytnykov. «Wir müssten 3:0 zur Halbzeit führen», meint auch Torschütze Vogt. Und dann wäre es für Servette enorm schwierig geworden.
Die Wohler Führung lässt Servette im zweiten Durchgang allmählich erwachen. Doch zuerst sind es die Freiämter, die gleich nach Wiederanpfiff eine Grosschance versemmeln. Die Fussballmechanismen greifen immer mehr. Der logische – ja fast schon unausweichliche – Spielverlauf nimmt immer mehr Formen an. Servette ist nun ballsicherer, Servette drückt, kommt dem Ausgleich immer näher. Doch die Wohler wehren sich vehement. Solidarisch wird verteidigt, heldenhaft wird gefightet. FCW-Goalie Sytnykov pariert zudem sackstark. Doch den Wohlern gehen die Kräfte aus. Sie kommen kaum noch über die Mittellinie.
Und schliesslich geschieht das, womit alle irgendwie gerechnet haben: Servette Genf trifft zum Ausgleich. Bezeichnend, dass es die ein wenig überheblich auftretenden Westschweizer nicht aus dem Spiel heraus schaffen, ein Tor zu erzielen, sondern sie eine Standardsituation brauchen. Der Freistoss von Boubacar Fofana in der 76. Minute ist ein Geschoss. Herrlich anzusehen, mitten ins blau-weisse Fussballherz. Im Stadion Niedermatten wird es ruhiger.
Plötzlich war die Party aus
Servette verpasst die Entscheidung in der regulären Spielzeit. FCW-Goalie Sytnykov rettet kurz vor Schluss in extremis auf der Linie. Nach acht Minuten Nachspielzeit pfeift Schiedsrichter Alain Bieri ab. Die Verlängerung muss entscheiden. «In der Verlängerung war es klar, dass es ganz ganz schwierig wird. Sie sind Profis. Wir Amateure», sagt Vogt. Der längere Atem setzt sich durch. Nach zwei Minuten in der Verlängerung entscheidet Boris Cespedes mit einem lahmen Weitschuss die Partie. Weil FCW-Goalie Sytnykov verletzt raus musste, steht der 18-jährige Maksym Parshykov in der Kiste – und sieht beim Gegentor nicht gut aus. Die Cup-Party ist aus. Ein unwürdiger Abschluss eines gigantischen Cup-Abends.
Pfister trifft für FCW
Servette erzielt noch drei weitere Tore gegen die Wohler, die nun k. o. sind. Immerhin: Justin Pfister erzielt noch das zweite Tor für Wohlen (zum zwischenzeitlichen 2:4).
Momo Seferi, der eine 100-prozentige Torchance und den Penalty versiebte, sagt nach dem Spiel: «In der ersten Halbzeit hat man nicht gesehen, wer in der Super League spielt und wer in der 1. Liga classic. Leider können wir uns für diesen starken Auftritt nicht belohnen.»
Und so werden die Wohler zu tragischen Helden eines fantastischen Cup-Abends, der wohl noch lange in den Köpfen rumgeistern wird. Einzig das Happy end fehlte.