«Soziale Faktoren machen krank»
20.10.2023 Region Bremgarten, Gesundheit, Region Wohlen, Region Oberfreiamt, Region Unterfreiamt, WohlenFrank Marohn, leitender Oberarzt des Ambulatoriums für Erwachsene Freiamt, über die psychische Gesundheit
Es ist ein Thema mit vielen Gesichtern: Psychische Erkrankungen können temporär oder aufgrund physischer Veränderungen des Gehirns entstehen. ...
Frank Marohn, leitender Oberarzt des Ambulatoriums für Erwachsene Freiamt, über die psychische Gesundheit
Es ist ein Thema mit vielen Gesichtern: Psychische Erkrankungen können temporär oder aufgrund physischer Veränderungen des Gehirns entstehen. Aber auch die Lebensumstände können krank machen. Was dahintersteckt und wie man es schafft, seiner Gesundheit Sorge zu tragen, erklärt Frank Marohn, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
Celeste Blanc
Psychische Erkrankungen stellen die Schweiz vor gesundheitspolitische Herausforderungen. Gemäss Angaben der Gesundheitsförderung Schweiz leiden rund 17 Prozent der Bevölkerung an einer oder mehreren psychischen Erkrankungen. Diese können sich bei Betroffenen auf alle Lebensbereiche auswirken und zu Beeinträchtigungen im Alltag führen. Damit zählen sie zu den häufigsten Krankheiten und verursachen in der Schweiz jährlich Kosten von schätzungsweise sieben Milliarden Franken.
Im Kanton Aargau behandeln die Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) Menschen aller Altersgruppen. Nebst dem Hauptstandort Königsfelden in Windisch bei Brugg ist der Sitz für die Region Freiamt in Wohlen. Geleitet wird dieser seit 23 Jahren vom leitenden Oberarzt Psychiatrie und Psychotherapie Frank Marohn.
Herr Marohn, wie definiert man «psychische Gesundheit»?
Frank Marohn: Gemäss WHO wird im Allgemeinen Gesundheit als ein Zustand des vollständigen geistigen, psychischen, körperlichen und sozialen Wohlbefindens erklärt. Hinsichtlich der Psyche kann man festhalten, dass jene Menschen gesund sind, die ihre Fähigkeiten ausschöpfen und normale Lebensbelastungen bewältigen können. Im Gegensatz zur körperlichen Konstitution, wo man entweder gesund ist oder nicht, ist bei der Psyche die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit fliessend.
Wie meinen Sie das?
Psychisch gesund heisst nicht, dass man keine Symptome aufweist. Ein Symptom ist beispielsweise die Stimmungsschwankung. Diese kann bis zu einem gewissen Ausmass normal sein und ohne Krankheitswert. Ein Indiz für eine Erkrankung hingegen zeigt sich mit der Ausprägung eines Symptoms, zum Beispiel wie stark oder wie häufig eine Stimmungsschwankung vorkommt.
Wie breit ist das Spektrum von psychischen Erkrankungen?
Es gibt Abhängigkeitserkrankungen, die durch psychotrope Substanzen wie Drogen hervorgerufen werden. Dann gibt es jene Erkrankungen, die sich aus einer organischen Veränderung des Gehirns entwickeln, wie zum Beispiel Demenzerkrankungen. Zusätzlich gibt es den Bereich der Psychosen und der Schizophrenie, der affektiven Störungen, wozu Depressionen und Bipolarität zählen, der Persönlichkeits- und Essstörungen, weiter auch Störungen, die im Jugendalter beginnen, wie ADHS, die Autismus-Spektrum-Störung sowie die geistigen Behinderungen, die mittlerweile ein eigenes Feld darstellen. Ein Bereich, der zunehmend in den Vordergrund rückt, ist derjenige der Belastungsstörungen. Diese entstehen dann, wenn die Belastungen von aussen sehr gross sind. Auch der Bereich der Psychotraumatologie ist zu beachten, so etwa bei Flüchtlingen mit schweren Kriegserfahrungen.
Was beschäftigt vor allem im Ambulatorium in Wohlen?
Ausnahmslos die ganze Bandbreite. Ich bin zwar Leiter eines psychiatrischen Ambulatoriums auf dem Land, aber die Welt zieht hier vorbei: von Geflüchteten, Expats zu Ansässigen über alle Alters- und Sozialschichten. Das ist einerseits sehr spannend, andererseits ist man auch mit viel Leid konfrontiert und es ist schwierig, wenn man sieht, wie eigentlich immer mehr strukturell gesunde Menschen unter den Lebensbelastungen erkranken.
Strukturell gesunde Menschen werden krank – können Sie das erläutern?
Krank wird man dann, wenn die Belastungen die Resilienz oder die persönlichen geistigen Ressourcen übersteigen. Vereinfacht gesagt bedeutet das, dass man aus der Balance gefallen ist. Arbeit und Musse, Schlafen und Bewegung, Essen und Fasten – all diese Dinge müssen im Gleichgewicht bleiben. Die Psychiatrie geht heute von einem biopsychosozialen Krankheitsmodell aus, das heisst, biologische, soziale oder psychologische Belastungsfaktoren können eine Krankheit begünstigen. Einfacher gesagt heisst das, dass wir durch soziale Belastungsfaktoren erkranken können. Beispielsweise durch toxische Beziehungen, Streit oder lang anhaltende Probleme am Arbeitsplatz. Das Problem ist: Fallen die Belastungen weg, wird man nicht automatisch gesund. Die Psyche muss sich erholen, was viel therapeutische Arbeit sein kann. Dieser Sachverhalt wird oft übersehen.
Wie akut zeigt sich das Problem in der Praxis?
Die Zahlen sprechen für sich. Nebst den bestehenden Patientinnen und Patienten melden sich jährlich 4200 Menschen im Einzugsgebiet Freiamt, um Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und diese leiden nebst Schmerzen, Depressionen, Sucht oder Psychosen auch an Arbeitsplatz-, Paar- oder Familienproblemen.
Geht es der Gesellschaft psychisch also immer schlechter?
Man muss aufpassen, nicht zu pauschalisieren. Tendenziell «jammern» wir auf sehr hohem Niveau. Wir leben in einem Land, wo alles möglich ist. Seit vielen Jahren geht es uns sehr gut. Aber: Dadurch, dass ein Prozess der Entstigmatisierung und Enttabuisierung hinsichtlich der psychischen Erkrankungen stattgefunden hat, ist man achtsamer bei diesem Thema geworden. Man traut sich, Sachen anzusprechen, die man früher verleugnet und verneint hat. Es ist also schwer zu sagen, wo die Ursache für die hohe Nachfrage an Therapien liegt.
Was halten Sie von dem Vorurteil, dass die Generation Z nicht mehr belastbar ist?
Auch hier darf man nicht pauschalisieren. Man neigt dazu, diese Generation als «Leistungsverweigerer» zu stigmatisieren. Das halte ich für sehr vereinfacht. Zwar haben sie einen hohen Anspruch an eine gute «Work-Life-Balance», den auch ich in der Praxis antreffe. Im Umkehrschluss kann man sich aber auch fragen, ob die Anforderungen am Arbeitsplatz, was Erfahrung, Flexibilität und Leistungsbereitschaft angeht, nicht immer mehr zunehmen? Ältere Menschen sind geprägt, für die Arbeit zu leben, und machen vieles einfach mit. Jüngere Menschen hingegen hinterfragen dieses Muster. Das könnte ein Vorteil sein. Und abgesehen von Fragen der Selbstfindung sowie der beruflichen, sexuellen und gesellschaftlichen Orientierung, welche für junge Erwachsene heute normal sind, beschäftigen diese auch Themen, die bei vorherigen Generationen nicht so stark präsent waren. Beispielsweise die Genderthematik. Wer oder was bin ich? Als was fühle ich mich? Das ist nicht zu unterschätzen.
Wie zeigt sich das in der Praxis?
Es lässt sich festhalten, dass uns sehr viele junge Menschen aufsuchen. Die Altersgruppe zwischen 17 und 28 Jahren macht fast 30 Prozent unserer Patientinnen und Patienten aus.
Die kalte Jahreszeit steht an. Viele klagen über den «Herbstblues». Um was handelt es sich?
Bis jetzt haben wir ja glücklicherweise einen sehr goldenen Herbst (lacht). Aber spätestens, wenn die Zeitumstellung erfolgt ist, kann das kippen und die dunkle Jahreszeit die Menschen belasten. In der Psychologie und Psychiatrie reden wir von einer saisonal abhängigen Depression (SAD). Rund fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung leiden darunter, in einer milderen Form sogar bis zu 30 Prozent. Das ist viel.
Wie kommt diese zustande?
Der Mensch ist hormon- und lichtgesteuert. So stehen das Serotonin, das durch Licht hervorgerufen wird und stimmungserhellend ist, und das Melatonin, das beim Schlaf freigesetzt wird, in Wechselwirkung. Durch die längere Dunkelphase verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen den Hormonen hin zum Melatonin, was müde macht. Dadurch können sich Antriebsstörungen und Lustlosigkeit zeigen, Betroffene ziehen sich übermässig zurück.
Was kann man dagegen tun?
Ein Rhythmus ist wichtig. Also Bewegung und Tageslicht in seinen Tagesablauf einplanen. Wichtig zu wissen ist, dass auch Tageslicht von einem dunklen und grauen Wintertag ausreicht, um eine positive Wirkung auf unsere Stimmung zu haben. Ich persönlich gehe dafür im Winter über den Mittag 20 Minuten spazieren. Alternativ kann man auch die Lichttherapie nutzen. Dabei wird eine spezielle Lampe eingesetzt, die das Tageslicht ergänzen soll. Empfohlen wird, eine solche Lampe jeweils am Morgen eine halbe bis eine Stunde zu nutzen.
Was sind Ihre Tipps, wie man allgemein seiner psychischen Gesundheit Sorge tragen kann?
Ganz wichtig ist die Selbstfürsorge. Sich so annehmen, wie man ist, aktiv bleiben, sich kreativ betätigen, entspannen oder Neues lernen. Auch die Pflege von Beziehungen, sei es innerhalb der Familie, der Partnerschaft oder unter Freunden, hat einen positiven Einfluss auf uns. Und was auch wesentlich ist: Man sollte sich öffnen, wenn einen etwas belastet. Reden hilft bei sehr vielem. Zudem schafft es Vertrauen, was zentral für den Menschen ist. Um gesund zu bleiben, egal ob psychisch oder körperlich, müssen wir dies priorisieren. Und da ist jeder für sich gefragt.
Psychiatrische Dienste Aargau
Die Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) sind eine öffentlich-rechtliche Institution, die Menschen aller Altersgruppen behandelt, die von psychischer Erkrankung betroffen sind. Die Behandlung und Betreuung mit Notfalldiensten und Krisenintervention gewährleisten die PDAG an acht Standorten. Diese verteilen sich auf Rheinfelden, Brugg, Windisch, Baden, Aarau/Unterentfelden, Lenzburg, Zofingen und Wohlen, wo sich das Ambulatorium für Erwachsene Freiamt, das Ambulatorium für Kinder und Jugendliche Freiamt sowie das Tageszentrum Freiamt befinden.
Ein grosses Einzugsgebiet
Das Einzugsgebiet umfasst insgesamt 120 000 Menschen von Hendschiken bis Dietwil und Meisterschwanden bis Rudolfstetten-Friedlisberg. Geleitet wird der Standort Freiamt seit dem Jahr 2000 von Frank Marohn. Er hat Humanmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und an der Universität in Salamanca studiert.
Seine Facharztausbildung absolvierte Frank Marohn unter anderem in der Klinik für Psychiatrie Littenheid im Thurgau und war im Sozialpsychiatrischen Dienst des Kantons St. Gallen und in der Neurologie in der Schweizerischen Epilepsieklinik Zürich beschäftigt. Zeit und Musse für sich selbst haben, so nimmt Frank Marohn Abstand von seinem Berufsalltag. Diesen geniesst er innerhalb der Familie als Vater und Grossvater, bei Arbeiten im Haus oder Garten oder auf Reisen. Er ist im Raum Aarau zu Hause. --cbl