Mitten aus dem Leben
09.05.2023 Villmergen, Region UnterfreiamtTheatergesellschaft Villmergen wagt sich mit «Under em Milchwald» an eine grosse Aufgabe – und brilliert
Mit dem «Kammerdiener» haben die Villmerger vor fünf Jahren die Latte hoch gelegt für kommende Produktionen. Mit dem neuen ...
Theatergesellschaft Villmergen wagt sich mit «Under em Milchwald» an eine grosse Aufgabe – und brilliert
Mit dem «Kammerdiener» haben die Villmerger vor fünf Jahren die Latte hoch gelegt für kommende Produktionen. Mit dem neuen Stück legen sie diese nochmals höher. «Under em Milchwald» ist Theater auf ganz andere Art. Und gerade darum etwas so Wunderbares.
Chregi Hansen
Da liegen sie in ihren Häusern und schlafen, all die Bewohner des kleinen Freiämter Dorfes. Man hört sie schnarchen, seufzen, ächzen und wispern. Noch kennt das Publikum weder ihre Namen noch ihr Schicksal, doch das ändert sich schnell, wenn die beiden Erzähler im Dunkeln durchs Dorf schreiten und die Personen in ihren Betten vorstellen. Mehr noch, sie lassen die Zuschauer teilhaben an den Träumen, Ängsten und Sehnsüchten dieser Menschen. Pflanzen den Schlafenden nach und nach Seele und Persönlichkeit ein.
Schon diese Einstiegsszene ist ganz grosses Kino, wie man heute salopp formuliert. Der Einsatz des Lichtes. Die sich immer mehr entfaltende Bühne mit ihren vielen Häusern, die im späteren Verlauf so viele Überraschungen offenbaren. Der sich ständig wechselnde Ort des Geschehens, zu dem die Erzähler huschen. Die ungeheuer verdichtete Sprache von Übersetzer Paul Steinmann, die so nahe am Original des walisischen Dichters Dylan Thomas ist und doch klingt, als stamme sie aus dem Villmergen früherer Jahre. Und der Mut des Ensembles, sich quasi vor dem Publikum zu entblössen, sich im Nachthemd auf die Bühne zu legen.
Sie lieben sich, sie hassen sich, sie brauchen sich
Was man dabei nicht vergessen darf: «Under em Milchwald» ist im Original ein Hörspiel. Die Bilder dazu mussten die Villmerger selber kreieren. Und das ist dem künstlerischen Team um Dodó Deér, welcher nicht nur Regie führte, sondern auch das Bühnenbild kreierte, eindrucksvoll gelungen. Die Kostüme von Eva Butzkies sind den Schauspielern auf den Leib geschneidert. Der Einsatz des Lichts durch Lumentopf führt das Publikum gekonnt durch das Geschehen. Die Musik von Christov Rolla, der selber mitspielt, ist atmosphärisch, die Gesangseinlagen des Ensembles sind von hohem Niveau. Und die Choreografien von Mariana Coviello fügen die einzelnen Szenen zu einem Ganzen zusammen. Immer wieder formt sich das Leben im Dorf zu einer ameisenhaften Maschine, in der jeder seinen Platz hat.
Erzählt wird nicht die eine, grosse Geschichte. Erzählt werden Dutzende von kleinen Geschichten. Es geht um die Nöte und Hoffnungen der Menschen in diesem Dorf, die notgedrungen eine Gemeinschaft bilden. Die sich gegenseitig beäugen, einander lieben oder hassen, die alles von allen wissen und dennoch viele kleine Geheimnisse verstecken. Bis hin zu Mordfantasien und heimlichen Vaterschaften. Es sind keine strahlenden Helden auf der Bühne zu sehen, dafür viele gestrauchelte Existenzen, die auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind. Es sind genau gezeichnete Charaktere mit je ihren eigenen Persönlichkeiten. Von den kichernden Teenies bis zum blinden Matrosen, der sich in sein altes Leben zurückträumt. Mit dem Dorf als gemeinsames, kleines Universum.
Das Rundum-Genuss-Paket
«Under em Milchwald» müsste man als Gesamtkunstwerk bezeichnen, wenn der Begriff nicht schon so abgegriffen wäre. Die Villmerger Produktion regt alle Sinne an. Es wird viel gelacht, obwohl das Leben in diesem Dorf nicht lustig ist. Es gibt aber ebenso viele berührende Momente. Poetische gar. Mal ist es ruhig, dann wieder derb und laut und manchmal gar vulgär. Einen Tag lang begleitet das Publikum das Dorf in seinen Tätigkeiten. Abends legen sich die Menschen wieder zur Ruhe, jeder für sich. Mit ihren Träumen, Ängsten und Sehnsüchten. Ein rundes Ende einer so runden Geschichte. Ein Stück quasi mitten aus dem Leben. Wie es früher wohl fast überall gelebt wurde. Nicht nur im walisischen Fischerdorf oder im kleinen Freiämter Dorf.
Wer eine spannende Geschichte oder gar eine Komödie erwartet, der wird enttäuscht heimgehen. Wer sich aber einlässt auf die vielen Bilder und die eindrückliche Sprache, der wird reichlich belohnt. Und wer sich zuvor noch ein wunderbares Essen in der «Wirtschaft zur Bettlertanne» gönnt, der erhält quasi ein perfektes Rundum-Paket. Und kann gleich zweifach geniessen – kulinarisch und kulturell.
15 weitere Aufführungen bis zum 10. Juni. Tickets: www.theater-villmergen.ch.