Mit Musik und Jugenderinnerungen
03.10.2025 Musik, MuriMarcel Briand bringt als Clown kontinuierlich Abwechslung in den Alltag der Pflegi Muri
Die Menschen nicht plump belustigen, sondern sie auf emotionaler Ebene abholen, das strebt Marcel Briand mit seiner humorvollen Interaktion an. In der Pflegi Muri haben Clownbesuche ...
Marcel Briand bringt als Clown kontinuierlich Abwechslung in den Alltag der Pflegi Muri
Die Menschen nicht plump belustigen, sondern sie auf emotionaler Ebene abholen, das strebt Marcel Briand mit seiner humorvollen Interaktion an. In der Pflegi Muri haben Clownbesuche eine lange Tradition.
Thomas Stöckli
«Machen Sie den Deckel selbst auf. Ich möchte nicht schuld sein, wenn Sie sich erschrecken», sagt der Mann mit der roten Nase, kauert sich vor die am Tisch sitzende Bewohnerin und hält ihr eine kleine Geschenkkiste aus Stoff hin. Die Frau lässt sich ein zweites, ein drittes und sogar ein viertes Mal bitten, bis der «Gwunder» siegt. Dann greift sie zu, klappt den Deckel nach hinten und – erschrickt nicht. Den Blick auf den Inhalt gerichtet, hält sie den Deckel weiter fest. Es sind drei kleine «Mäuslein», die ihr ihre Näslein scheinbar schnuppernd entgegenrecken. Mehrere Sekunden verharrt die Frau so. Blickt in die Box. Sagt kein Wort. Ganz im Moment.
Der Ballon wirkt immer
Die Box mit den kleinen Tierchen ist eines von ganz vielen Requisiten auf dem Handwagen, mit dem Clown Marcel Briand Abwechslung ins Leben der Pflegi-Bewohnerinnen und -Bewohner bringt. Alle zwei Wochen kommt er für einige Stunden vorbei, besucht die Wohngruppen in fortlaufendem Turnus. «Plümiert» hier, indem er eine am langen Stock fixierte Feder sanft über die Wange einer Frau gleiten lässt, und animiert da mit einem grossen Luftballon zu Bewegung. Auch wer bisher noch keine Regung gezeigt hat, wird plötzlich aktiv, wenn der grosse Ballon auf ihn oder sie zuschwebt. «Das geht immer», weiss Briand aus Erfahrung.
Zwischenmenschliches Gespür
«Als ich vor sechs Jahren angefangen habe, gehörte der Clown bereits dazu», sagt Manfred Schmid, Leiter Pflege und Betreuung in der Pflegi Muri. «Ich stand dem Clown zu Beginn skeptisch gegenüber», gibt er bei der gemeinsamen Kaffeepause im Restaurant Benedikt unumwunden zu. Die Vorbehalte sind längst weg. «Ich habe sehr schnell gemerkt, das sind nicht irgendwelche Zirkusclowns, sondern Menschen mit ganz viel zwischenmenschlichem Gespür. Menschen, die einen Rucksack mitbringen mit Kompetenzen aus der Pflege.» Nicht reine Unterhalter, die ihr Programm abspulen und wieder gehen, sondern mehr eine Art externe Mitarbeiter. Das zeigt sich auch in einem der langen Pflegi-Gänge. Als ein orientierungsloser Bewohner vor einer verschlossenen Tür nicht mehr weiterweiss, setzt Briand die Clownnase kurzerhand ab, beruhigt den Mann und weist ihm den Weg zur Stationsschwester. Da kommt der Psychiatriepfleger durch, der er früher war.
Wertvolle Begegnung
«Im Gegensatz zum spektakulären Clown reisst Marcel Briand die Aufmerksamkeit nicht an sich, sondern lässt sie sich schenken», veranschaulicht Schmid. Es geht um positive Emotionen, wohl wissend um die Ernsthaftigkeit, mit der die Bewohner konfrontiert sind. Sie sind es denn auch, die den Takt vorgeben. So habe er bisher denn auch keine einzige kritische Stimme gehört bezüglich Clowns. «Echt?!», fragt Marcel Briand sogleich mit grossen Augen zurück. Ja, die Akzeptanz sei gross, bestätigt Schmid, bei den Bewohnerinnen und Bewohnern ebenso wie bei den Mitarbeitenden: «Die Clowns gehören dazu in der Pflegi Muri.» Und das schon lange. «Mindestens 30 Jahre», sagt Briand. Er erinnert sich an den Basler Clown Pello, den er damals mit der Fotokamera begleiten durfte. Später setzte das Duo «Frieda & Berta» die Tradition fort, Briand stieg mit ein und übernahm schliesslich ganz. Sicher schon 15 Jahre alle zwei Wochen. «Der Clown ist nicht mehr eine Attraktion», beschreibt er die Wirkung dieser Kontinuität, «sondern mehr etwas wie ein Verbündeter im Scheitern.» Es geht nicht um Pointen, um Auslachen und Blossstellen, sondern um wertvolle Begegnung im Alltag, wobei es auch vorkomme, dass Leute gar nichts von ihm wissen wollen. Manche grundsätzlich – «die sehen mich nur einmal», versichert Briand –, andere, weil sie schlicht zu dem Zeitpunkt nicht mögen.
Erinnerungen an die Jugend
Als Clown Marcel Briand auf der Station angekommen ist, sassen dort alle in sich gekehrt, die meisten am Tisch. Einer schlief, die Zeitung auf dem Schoss, in einem Sessel. Er schläft auch noch, als der Clown eine gute halbe Stunde später wieder aufbricht. Bei den anderen hat sich ein sichtbarer Wandel vollzogen. Die Frau, die zu Beginn gesagt hatte, dass es ihr schlecht gehe, fordert ihn nun auf, doch bald wiederzukommen. «Ich will die Menschen auf emotionaler Ebene abholen», verrät Briand. Das gelingt ihm oft mit Jugenderinnerungen. Dazu dienen ihm vertraute Gegenstände aus längst vergangenen Zeiten. Und natürlich Musik.
«Musik bewirkt etwas», sagt Briand, «und mit dem Gerät noch mehr», fügt er an und weist auf das Grammofon, das er immer mitführt. Er weiss, welche Platte er bei wem auflegen muss, und erzählt von der mittlerweile verstorbenen Italienerin, die längst nicht mehr sprach, aber zu «La Mamma» noch so mitsang, dass der Clown und die Pflegerin mit Tränen in den Augen dastanden, ehe sie sich wieder in ihre eigene Welt zurückzog. In dieser Gruppe ist es ein anderes Lied, von dem er weiss, dass er eine Bewohnerin zum Mitsingen animieren kann. Und der Handpuppen-Hund, der sie so an ihren «Tim» erinnert. Mit einer anderen Frau schwingt er das Tanzbein zu «Love me tender» von Elvis. «Das ist ein Liebeslied», sagt er ihr, «weisch, von Liebe und so Zeug.»
Zeit als Luxus
Marcel Briand schätzt den Luxus, sich Zeit nehmen zu können, die andere im hektischen Alltag oft nicht haben. Er kann auf Antworten warten. Ein paar Minuten verweilen. «Die Pflegenden haben einen Auftrag, einen Plan, eine Absicht. Ich will grundsätzlich nichts von ihnen», zeigt er den wichtigen Unterschied auf. Bei aller Tragik von Vergessen und Identitätsverlust kann er der Demenz durchaus auch Qualitäten abgewinnen: «Das ist ein zutiefst meditativer Zustand», sagt er und betont, nicht verharmlosen, sondern der Tragik etwas Leichtes gegenüberstellen zu wollen.