«Mir geht jedes Mal das Herz auf»
16.01.2024 WohlenSchweizer Strohmuseum: Zeitzeugen Elisabeth Zimmermann-Mäschli und Martin Bruggisser berichten
Sie könnten stundenlang über ihre Erfahrungen aus der Strohindustrie erzählen. Ihr Wissen ist wie eine Schatztruhe. «Mäschli» Zimmermann und ...
Schweizer Strohmuseum: Zeitzeugen Elisabeth Zimmermann-Mäschli und Martin Bruggisser berichten
Sie könnten stundenlang über ihre Erfahrungen aus der Strohindustrie erzählen. Ihr Wissen ist wie eine Schatztruhe. «Mäschli» Zimmermann und Martin Bruggisser gewährten spannende Einblicke in ebendiese wertvolle Sammlung an Erlebnissen aus der heimischen Strohindustrie.
Daniel Marti
Das Wissen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Strohindustrie ist unerschöpflich und äusserst wertvoll. Diese Erinnerungen geniessen beim Schweizer Strohmuseum einen hohen Stellenwert. Die aktuelle Sonderausstellung nimmt sich der «Geschichten aus Chly Paris» an. Gespräche mit über 30 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Hutgeflechtindustrie werden derzeit in einem interaktiven Kino gezeigt. Vier Gespräche mit Zeit zeuginnen und Zeitzeugen bereichern die Ausstellung, sie erzählen von ihren Erfahrungen in der Hutgeflecht industrie.
In einer Diskussionsrunde gaben nun Elisabeth Zimmermann-Mäschli, ehemalige Angestellte beim Unternehmen von Mario Dubler, und Martin Bruggisser, der Sohn des Direktors Manfred Bruggisser bei Bruggisser & Co, interessante Einblicke in vergangene Zeiten. Moderiert wurde die geschichtliche Runde von Daniel Güntert und Corina Haller.
Und so ganz nebenbei: Der Ausstellungsraum war am vergangenen Sonntag ausverkauft, es mussten noch zusätzliche Stühle herangetragen werden, damit die über 50 Besucherinnen und Besucher Platz fanden.
Mit Uniform als Liftboy die Bundesräte begrüsst
Das grosse Interesse ist nachvollziehbar: Elisabeth Zimmermann, nur als «Mäschli» bekannt, ist noch heute mit dem Strohmuseum eng verbunden. Und Martin Bruggisser hat den bekannten Besuch des Gesamtbundesrates im Juli 1966 live miterlebt. «Das war einzigartig», erinnert sich Daniel Güntert. Martin Bruggisser, damals 14-jährig, durfte sämtliche Bundesräte in der Firma seines Vaters persönlich begrüssen. Natürlich, er musste zuvor zum Coiffeur, und gepflegtes Französisch lernen, damit er jedes Regierungsmitglied richtig ansprechen konnte. Und die Uniform der Kadetten musste er tragen, damit der als Liftboy eine gute «Gattig» machte.
Der Besuch des Gesamtbundesrats habe im Betrieb der Bruggisser & Co hohe Wellen geworfen. Das Programm war anfänglich umfassend, «aber es wurde laufend zusammengestrichen», erinnert er sich an die Einf lussnahme aus Bundesbern. «Und in der Schule hat sich dafür fast niemand interessiert», blickt er zurück. Dies, obwohl ein Gesuch gestellt werden musste, damit Martin Bruggisser an jenem Tag die Bezirksschule nicht besuchen musste.
Der Grund für den hohen Besuch war Hans Schaffner. Am 15. Juni 1961 wurde er in den Bundesrat gewählt. Wegen seines Heimatortes Gränichen galt er als Vertreter des Kantons Aargau. Er war Bundespräsident im Jahr 1966 und organisierte die Bundesratsreise in seinen Kanton. Plötzlich habe es geheissen, «der Bundesrat kommt zu uns auf Besuch», so Bruggisser. Und es sei eindrücklich gewesen, als am 5. Juli die schwarzen Limousinen im Firmenhof zugefahren sind. «Die Hälfte der Bundesratsdelegation hat mir sogar die Hand gegeben», so Martin Bruggisser. «Nach drei Viertelstunden sind sie wieder abgerauscht. Aber es war natürlich ein tolles Erlebnis.»
«Entweder er oder ich»
Von vielen tollen und bemerkenswerten Erlebnissen konnten beide erzählen. «Mäschli» Zimmermann, geboren 1948 und auf dem elterlichen Bauernhof aufgewachsen, war praktisch ein Berufsleben lang bei Mario Dubler, Import/Export, angestellt. Und Martin Bruggisser, 35 Jahre lang Lehrer in Villmergen, bekam von seinem Vater die Bruggisser-Dynastie ganz nahe mit. «Mäschli» Zimmermann absolvierte bereits die Lehre bei Mario Dubler. Sie habe dort in der kleinen Firma alles erledigt, und zwar sehr gerne. Und in der langen Zeit habe es nur selten Unstimmigkeiten gegeben. Dann sei ausgehandelt worden, wer denn früher in den Feierabend durfte. «Entweder er oder ich. Dann ging er und in der Firma wurde gearbeitet …», sagte sie schmunzelnd. Sie war schliesslich bestens vertraut mit den Erzeugnissen der Strohindustrie, denn schon ihre Mutter war mit Heimarbeit beschäftigt.
Martin Bruggisser hatte die Strohfirma praktisch gleich im Haus. Am Sonntagmorgen durfte er jeweils mit seinem Vater auf die Post. Das Postfach wurde geleert und für Montag sortiert. Für Martin Bruggisser war dies stets ein besonderer Abstecher. Nicht wegen der Strohindustrie, sondern wegen den Briefmarken auf den internationalen Briefen. Diese sammelte er nämlich so gerne. Und wenn über die Arbeit gesprochen wurde, dann nur in der Firma. «Beim Mittagessen war die Firma nie ein Thema.» Auch nicht, als es in den Sechzigerjahren «langsam mit der Hutindustrie bergab ging».
«Du kleine freche Hexe»
Internationalität gilt übrigens für beide. Denn «Mäschli» Zimmermann verabschiedete sich für zwei Jahre nach Amerika. New Jersey und Washington war «eine schöne Zeit», da könnte sie ganz Nachmittage lang erzählen. Sie erhielt eine Green Card, arbeitete für eine amerikanische Familie, hütete einen siebenjährigen Buben und lernte dank der US-Familie, die politisch aktiv war, auch einen gewissen Mister Rockefeller von den superreichen Rockefellers kennen. Aber die Heimat verlangte ihren Einsatz in Wohlen. Der Vater hatte einen Herzinfarkt «und Mario Dubler wollte mich zurück». Zu Hause kam dann die Liebe dazwischen. Bald kam die Tochter zur Welt. Und die nahm sie dann einfach mit zur Arbeit. Das Schöne daran: Die Tochter arbeitet heute in der Hutindustrie. Welch ein Glück.
Hat auch «Mäschli» Zimmermann etwas vom Bundesratsbesuch anno 1966 mitbekommen? Davon habe man kaum geredet im Dorf, «höchstens bei der Arbeit. Auf jeden Fall ist niemand am Strassenrand gestanden, als der Gesamtbundesrat in Wohlen zu Besuch war.» Viel eher waren ihre langen Hosen im Gespräch. Zur Hutmode wurden in den 60ern und 70ern keine langen Hosen getragen, das sei sogar verpönt gewesen. Trotzdem wagte sie es an einer Ausstellung in Wiesbaden. Viele Besucherinnen und Besucher schauten dann extra am Stand von Mario Dubler herein. Und ein Kollege meinte: «Mäschli, du bist eine freche kleine Hexe, aber es sieht gut aus.»
Der Untergang war ein schleichender Prozess
Die Strohindustrie erlebte diverse Blütezeiten. Aber auch ihren Untergang. «Natürlich», sagt heute Martin Bruggisser, «haben die Strohfirmen viel Geld verdient. Aber Hüte waren stets eine Modesache. Jedes Jahr benötigte es neue Kreationen. Und so gab es zwischendurch auch mal Kreationen, die keine oder nur wenige Abnehmer fanden. Für solche Zeiten brauchte es Reserven.» Aber weil er sich praktisch nie mit einer Nachfolgeregelung beschäftigte, ging ihm der Untergang der Strohindustrie nicht ganz so nahe. «Die Bürogebäude standen dann anfänglich leer. Aber das ist dann eher an mir vorbeigegangen.»
Es seien halt stets weniger Hüte getragen worden, findet auch Elisabeth Zimmermann. «An den Modeschauen wurden jedoch am Anfang des Untergangs nach wie vor viele Hüte präsentiert.» Und so wurden in der Firma die Pensen stets reduziert. «Es war ein schleichender Prozess, der bereits 1965 angefangen hat.» Es habe noch «kurze Höhenflüge» gegeben. Und so war sie bei Mario Dubler bis ins Jahr 1989 angestellt – Firmen wie Bruggisser oder auch Georges Meyer waren da schon längt geschlossen. Die Beziehung zur Strohindustrie habe sie nie verloren und dank der Strohindustrie sei es ihr persönlich stets gut gegangen, meinte sie noch.
Grosser Schatz
Beide – «Mäschli» Zimmermann und Martin Bruggisser – haben heute noch eine sehr positive Einstellung zur Strohindustrie. «Die hat für mich einen hohen Stellenwert, sie ist ein wesentlicher Teil der Geschichte von Wohlen», so Bruggisser, «und es ist schlichtweg schön, dass das Strohmuseum heute in der Villa Isler angesiedelt ist.» Und dorthin zieht es «Mäschli» Zimmermann immer wieder. Dort erklärt sie bei der Führung den Besucherinnen und Besuchern so ziemlich alles über die Strohindustrie. «Und mir geht jedes Mal das Herz auf, wenn ich eine Führung machen darf.»
Mit dieser Einstellung passen beide bestens ins Bild, das Daniel Güntert immer wieder umschreibt. «Dank den Zeitzeugen konnten wir einen unglaublichen Schatz zusammentragen», betonte er. Das Zeitzeugen-Gespräch vom Sonntag hat genau diese Erkenntnis noch zusätzlich unterstrichen.