Kunst mit urtümlichen Lebewesen
23.02.2024 MuriMit seinen «Myzelografien» hat Jonas Studer kürzlich im Aargauer Kunsthaus begeistert
Wo einst die Realität abgebildet war, öffnet er Portale in skurrile Fabelwelten mit ganz anderen Farben. Für seine Kreationen hat Jonas Studer eine eigene ...
Mit seinen «Myzelografien» hat Jonas Studer kürzlich im Aargauer Kunsthaus begeistert
Wo einst die Realität abgebildet war, öffnet er Portale in skurrile Fabelwelten mit ganz anderen Farben. Für seine Kreationen hat Jonas Studer eine eigene Technik erarbeitet, wobei er auf unberechenbare Helfer zählen darf.
Thomas Stöckli
«Myzelografien» war auf der Infotafel im Aargauer Kunsthaus schlicht zu lesen. Und darüber: «Jonas Studer (Muri *1981)». Im Rahmen der Ausstellung «Auswahl23» hat der 42-jährige Künstler mit Freiämter Wurzeln kürzlich seine Werkgruppe «Fun Guys» zeigen dürfen. Werke, für deren Ausdruck und Farbigkeit er auf die Unterstützung von anderen zählen durfte. Andere, über deren künstlerische Intention man nicht sinnieren muss. Doch dazu später mehr.
Einstieg über experimentelle analoge Fotografie
Auf seine besondere Technik ist Studer über die experimentelle analoge Fotografie gekommen. Ein Freund habe ihm vor langer Zeit eine Kamera in die Hand gedrückt mit einem alten Film darin, dessen Struktur sich bereits aufzulösen begonnen hatte. So kam er auf die Idee, mit Chemikalien zu experimentieren, welche die lichtsensitiven Farbschichten auf den Rollfilmen verändern. Es entstanden Mischformen, die einerseits als Fotografie die Realität abbilden, andererseits aber auch Einblicke in skurrile fremde Fabelwelten ermöglichen.
Als er hörte, dass gewisse Pilze diverse Enzyme herstellen können, um verschiedene Mineralstoffe in ihrer Umgebung als potenzielle Nahrung zu verdauen, kam die Idee auf, solche Pilze über Farbfilmrollen wachsen zu lassen. «Den Begriff ‹Myzelografie› habe ich erfunden», sagt der Künstler. Es ist die Verschmelzung von «Myzel», der Bezeichnung für die fadenförmigen Zellen eines Pilzes, und Fotografie. So einfach, wie er sich das vorgestellt hatte, war es dann allerdings doch nicht. Damit Pilze gedeihen können, brauchen sie einen Nährboden. Aus der Petrischale, in der sie bis zu einem Jahr lang bei fünf Grad im Kühlschrank gelagert werden können, kommen sie deshalb erst in Körnerbrut, dann in ihr eigentliches Substrat. Darin wachsen sie im Dunkeln bei kontrollierter Temperatur und Luftfeuchtigkeit heran, ehe sie dann durch die Veränderung der Licht- und Sauerstoffzufuhr ihre Fruchtkörper spriessen lassen.
Stärker als Lösungsmittel
Mit einem Recherchebeitrag des Kantons konnte Jonas Studer sich das notwendige Equipment kaufen, und nach einem Onlinekurs bei einer führenden Institution startete er seine eigene Pilzzucht. Doch was sollten die künstlerisch aktiven Pilze zu verdauen bekommen? Auch hier kam dem experimentellen Künstler der Zufall zu Hilfe. Zwei riesige Kisten mit Dias sollten den Pilzen ausreichend Nahrung bieten. Es sind Aufnahmen aus Tibet, festgehalten vom Sohn eines Expeditionsleiters. Für die Archivierung vorgesehen, handelt es sich um äusserst langlebige Dias. «Selbst wenn man sie in Azeton einlegt, passiert zehn Tage lang gar nichts», veranschaulicht Jonas Studer.
Ganz anders, wenn seine Pilze darauf losgelassen werden: Schon nach drei, vier Tagen hinterlässt ihr Wirken sichtbare Spuren: «Durch die Oxidation entstehen Farbigkeiten, die vorher gar nicht im Bild waren», so der Künstler. Was ihn besonders fasziniert, ist die Unberechenbarkeit, mit der das geschieht. Kein Effekt lässt sich wiederholen, jedes Mal ist es eine Überraschung, welche Bildwelten seine urtümlichen Mitarbeiter «kreiert» haben.
Untergrundbewegung ohne Geheimnisse
Pilze gibt es schon länger als Bäume und alle anderen Landpflanzen. Und doch sind von 9 Millionen Pilzarten gerade mal drei Prozent wissenschaftlich erforscht. «Wir haben keine Ahnung von dieser Vielfalt», bringt es der Künstler auf den Punkt. Das sei auf einer Seite erschreckend, auf der anderen aber auch extrem spannend. Das findet nicht nur er. Verschiedene Start-ups, Künstler und Pilzfans – die meisten ohne wissenschaftlichen Hintergrund – betreiben in ihren eigenen vier Wänden Forschung und tauschen die Ergebnisse offen aus. Studer berichtet von einem US-Amerikaner, der mit Pilzen T-Shirts färben wollte und dabei zufällig auf einen Supraleiter stiess, der für die Chipindustrie spannend sein könnte. Mit hoher Stabilität bei tiefem Gewicht punktet derweil ein Baumpilz. Er wächst zwar langsam, passt sich aber in der Form an. Liegt hier die Zukunft von Leichtbaustoffen?
Mit seinem künstlerischen Ansatz ist Jonas Studer Teil dieser offenen weltweiten Untergrundbewegung in der Pilzforschung. «Als Nächstes möchte ich biolumineszierende Pilze züchten», verrät er. Ob sich das künstlerisch nutzen lässt, muss sich erst noch weisen. Falls ja, darf man sich auf die nächste Ausstellung des Experimentalkünstlers freuen. Wenn nicht, wird er sicher andere Ansätze finden, die Kunstwelt zu überraschen.
Zur Person
In Muri geboren, lebte Jonas Studer danach kurz in Wohlen und pendelt mittlerweile zwischen Brugg, wo er sein Atelier mit Pilzzucht betreibt, und seinem neuen Wohnort Wimmis bei Spiez. Dass er nach wie vor im Freiamt verwurzelt ist, davon zeugen auch seine Ausstellungstätigkeit – im Rahmen von «Paarlauf» hat er seine Werke 2019 bei Murikultur im Singisenforum gezeigt –, aber auch sein soziales Netzwerk. Als leidenschaftlichem Surfer liegt ihm die stehende Welle auf der Reuss in Bremgarten am Herzen. Ergänzend zu seiner Tätigkeit als Künstler engagiert sich Studer in der Anleitung zu kreativen Denkprozessen im ausserschulischen Lernort eduLAB in Thun.