In Socken vor 250 000 Zuschauern
29.11.2024 KelleramtJoner Gesicht im Fernsehen
Rund 250 000 Menschen sitzen jeweils vor dem Bildschirm, wenn samstagabends um 20 Uhr das «Wort zum Sonntag» ausgestrahlt wird. Seit 70 Jahren existiert das Traditionsformat auf SRF 1. Alle zwei Jahre werden die Kommentatoren ...
Joner Gesicht im Fernsehen
Rund 250 000 Menschen sitzen jeweils vor dem Bildschirm, wenn samstagabends um 20 Uhr das «Wort zum Sonntag» ausgestrahlt wird. Seit 70 Jahren existiert das Traditionsformat auf SRF 1. Alle zwei Jahre werden die Kommentatoren ausgewechselt. Neu ist Reto Studer dabei. Nach neun Jahren als reformierter Pfarrer im Kelleramt schätzt er es, einen «Ausfallschritt» machen zu dürfen. --tst
Als eine von fünf Persönlichkeiten bringt Reto Studer das «Wort zum Sonntag» in Schweizer Stuben
Seit 70 Jahren ist es Bestandteil des Programms im Schweizer Fernsehen, das Wort zum Sonntag. Reto Studer aus Jonen erzählt, wie er es ins Format geschafft hat und wie es hinter den Kulissen abläuft.
Thomas Stöckli
Rund dreieinhalb Minuten dauert es, das «Wort zum Sonntag», das jeweils am Samstagabend um 20 Uhr, zwischen Tagesschau und Abendprogramm, auf SRF 1 ausgestrahlt wird. Reto Studer, Pfarrer der reformierten Kirche Kelleramt, braucht bei seiner Premiere im Oktober über drei Minuten, bis er auf Gott zu sprechen kommt. «Sehr bewusst» habe er dies so gemacht, verrät der 44-Jährige. «Es handelt sich ja nicht um eine Predigt, sondern um einen Kommentar zum Zeitgeschehen», sagt er – und wird konkreter: «Was erlebe ich, was beobachte ich und was lese ich in der Zeitung?» Mit diesen Fragen im Hinterkopf bewege er sich noch viel bewusster durch den Alltag.
Der Scheinriese und die Bibel
Die Inspiration zum ersten Auftritt vor rund 250 000 Fernseh-Zuschauerinnen und -Zuschauern lieferte dem Joner das eigene Familienleben. Als er seiner Tochter aus dem Kinderbuch «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» von Michael Ende vorlas, stach ihm das metaphorische Potenzial der Figur «Tur Tur» ins Auge. Ein furchteinflössender Riese, der nur noch grösser erscheint, je weiter man sich von ihm entfernt. Erst als Jim und Lukas auf den Scheinriesen zugehen, wird dieser kleiner – und weniger «gfürchig».
«Die Figur des ‹Tur Tur› passt in ganz viele Bereiche», erkannte Studer: Grosse Ziele lassen sich erreichen, wenn man Schritt um Schritt vorgeht. Ängste können weichen, wenn man sich ihnen stellt. Weshalb kam er zum Schluss seines ersten «Worts zum Sonntag» dann doch noch auf Gott zu sprechen? Darüber habe er mit dem Redaktor tatsächlich ausgiebig diskutiert, so der Pfarrer. Schliesslich sei das Publikum der Sendung sehr vielfältig. «Wer mit der Bibel nichts anfangen kann, soll sich nicht vor den Kopf gestossen fühlen», betont er. Schliesslich habe er sich dann aber doch für ein biblisches Zitat entschieden – weil es für ihn passte.
Zwei Auswahlrunden
Für den Posten beim Schweizer Fernsehen hätte er sich nicht von sich aus beworben, verrät Reto Studer, «ich habe mich aber sehr gefreut, als ich angefragt wurde.» Fünf Theologinnen und Theologen bilden das Sprecher-Team: je ein Katholik und eine Katholikin, ein Reformierter und eine Reformierte sowie ein Christkatholik. Pro Rolle waren am Anfang etwa fünf Personen im Rennen. Sie alle stellten sich in einer ersten Auswahlrunde einem Kameratest. Davon schafften es zwei pro Rolle in die zweite, entscheidende Runde. Dass er definitiv dabei ist, erfuhr der 44-Jährige im Juni. «In den Monaten danach hatte ich ab und zu regelrechte Adrenalinschübe», verrät er. An einem Ausbildungsseminar in Morschach wurden er und seine vier Mitstreitenden von Sprech-Profis und der Redaktion auf ihre besondere Aufgabe vorbereitet. «Je näher mein Start kam, desto gelassener wurde ich», beschreibt Studer, «bei der Aufzeichnung war ich dann ganz entspannt.»
Stichwort-Karten als «Krücken»
Aufgezeichnet wird das «Wort zum Sonntag» jeweils am Freitagnachmittag im Tagesschau-Studio. Eine Stunde steht dafür zur Verfügung. Sehr viel mehr Zeit und Arbeit steckt hinter dem vorbereiteten Text, auch wenn alles so leicht und spontan wirkt. Der Kommentar wird in einem Stück aufgenommen, ohne Schnitte. Das fertige Produkt, inklusive Einblender, lässt sich so bereits unmittelbar nach der Aufzeichnung sichten. «Bei Seelsorgegesprächen, im Unterricht oder im Gottesdienst weiss ich, wer mir gegenübersitzt. Beim ‹Wort zum Sonntag› spreche ich in eine Kamera. Man erhält keine Rückmeldung, weiss nicht, ob einem das Publikum folgt oder ob es längst abgeschaltet hat», beschreibt Reto Studer die spezielle Herausforderung. Einen Teleprompter gibt es nicht, die Texte werden frei vorgetragen. «Es gibt Sprecherinnen und Sprecher, die ihre Formulierungen im Moment entstehen lassen, bei mir steht alles im Skript», verrät er. Als Absicherung bereitet er Stichwort-Karten vor. Studer spricht in diesem Zusammenhang von «Krücken», die bereitliegen. «Wenn man mich bei einem ‹Wort zum Sonntag› mit Karten in der Hand sehen sollte, könnte das also daran liegen, dass ich es nicht ohne hinbekommen habe», sagt er und lacht. «Vielleicht habe ich aber auch nur ein langes Zitat darauf notiert, um dieses ablesen zu können.»
Am Aufzeichnungstag wird nichts dem Zufall überlassen. Um 14 Uhr soll Studer in der Maske sein. «Ich bin aber gerne viel früher vor Ort», sagt Studer. So bleibt genügend Zeit, etwas zu trinken – «zum Essen bin ich zu fokussiert» –, den Text nochmals durchzugehen und sich für eines der zwei, drei mitgebrachten Tenues zu entscheiden. Für die passende Kameraeinstellung geben die Sprecherinnen und Sprecher vorgängig ihre Grösse an. Bei der ersten Aufzeichnung war die Kamera für Studer etwas zu niedrig eingestellt. «Ich musste meine Schuhe ausziehen», verrät er und lacht: «Mein erstes ‹Wort zum Sonntag› habe ich also in Socken gesprochen.»
Nächster Auftritt zum 4. Advent
Und wie hat das Umfeld auf die Bildschirm-Premiere reagiert? «Schon während der Ausstrahlung haben mir Bekannte und Freunde Fotos geschickt, wie sie vor dem Fernseher sitzen und zuschauen», beschreibt der Kellerämter Pfarrer. Es folgten diverse Rückmeldungen aufs Handy und per Mail, durchweg positiv. Selbst von Unbekannten habe er Reaktionen erhalten, welche die Botschaft «Packen wir es an!» aufgriffen und von den «Scheinriesen» in ihrem eigenen Leben erzählten. «Die Nachrichten werden alle beantwortet», versichert Studer.
Das nächste Mal wird der Kellerämter zum 4. Advent auf dem Bildschirm zu sehen sein. Das weihnachtliche Thema ist somit gegeben. Erklärtes Ziel werde es sein, nebst den Menschen, die Weihnachten fröhlich begehen, auch die Menschen anzusprechen, welche diese Zeit als schwierig empfinden. Etwa, weil der Stuhl eines geliebten Menschen leer bleibt. «Wer einsam ist, ist in dieser Zeit noch einsamer», weiss er, gerade im Kontrast zum Feierlichen.
«Es ist ein Privileg, nach neun Jahren im Kelleramt einen Ausfallschritt machen zu dürfen», sagt Studer zum neuen Nebenjob, in dem er nun monatlich im Schweizer Fernsehen zu sehen sein wird. Ein Engagement, von dem er bereits heute weiss, dass es auf zwei Jahre befristet ist. Auf die Unterstützung der Kirchenpflege könne er voll zählen, so der Joner. Und falls sich doch etwas bedrohlich am Horizont aufbauen sollte, weiss er ja, wie das mit den Scheinriesen funktioniert.