In die Geschichten eintauchen
12.09.2023 WohlenVernissage der Sonderausstellung im Schweizer Strohmuseum: Zeitzeugen erinnern sich
Die Geschichte der Strohindustrie ist auch ein wesentlicher Teil der Historie von Wohlen. Umso wertvoller ist die neue Sonderausstellung im Schweizer Strohmuseum. 60 Zeitzeuginnen und ...
Vernissage der Sonderausstellung im Schweizer Strohmuseum: Zeitzeugen erinnern sich
Die Geschichte der Strohindustrie ist auch ein wesentlicher Teil der Historie von Wohlen. Umso wertvoller ist die neue Sonderausstellung im Schweizer Strohmuseum. 60 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen per Video.
Daniel Marti
Was hat ein wunderbarer und kuschliger Teddybär mit der Strohindustrie zu tun? Eine ganze Menge. Wer es genau wissen will, der besucht doch die neue Sonderausstellung im Schweizer Strohmuseum. Dort spielt der Teddy eine Rolle. Sowie auch der Gesamtbundesrat, der im Juli 1966 die Firma Bruggisser besuchte. Als Wertschätzung für das 150-Jahr-Jubiläum des Unternehmens. Das sind nur zwei wesentliche Inputs und Ereignisse, die im Strohmuseum nun ihren fixen Platz haben. Die neue Sonderausstellung «Von Kohlepapier, Knöpfelmaschinen und Knabenurin» bringt noch viel mehr ans Tageslicht. Der Titel sei schon korrekt und treffend, sagt Ruth Portmann. «Dieser Titel macht doch gwundrig», so die Präsidentin Stiftung Freiämter Strohmuseum Wohlen. Stimmt.
Freudentag und Meilenstein
Für die Sonderausstellung wurde ganz viel Interviewmaterial neu gesichtet, thematisch verdichtet und zusammengeschnitten. Zeitzeugen und Zeitzeuginnen gaben ihr Erlebtes und ihr Wissen preis. Was hier so einfach tönt, war eine riesige Arbeit. Aus 32 Interviews wurden 60 Stunden Filmmaterial. Und daraus wurden 60 Geschichten. 60 Geschichten rund um die Strohindustrie. Ein Vermächtnis, das auch für die Gemeinde Wohlen kaum grösser sein könnte. Wertvoll ist dies allemal.
Die Vernissage begann übrigens pünktlich. Auf den Schlag der katholischen Kirche genau um 11.30 Uhr. In der Vergangenheit der Strohindustrie sei um diese Uhrzeit jeweils die Mittagspause eingeläutet worden. Der Start zur kurzen Freizeit. Nun war es der Start zur Vernissage. «Heute ist ein Freudentag», fasste Ruth Portmann zusammen. «Heute», so die Stiftungspräsidentin, «feiern wir einen Meilenstein.» Einen, der lange auf sich warten liess. Schon ihr Vorgänger, Jacques Isler, hatte die Absicht, Stimmen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einzuholen. «Das sind wichtige Stimmen von unschätzbarem Wert. Und ein Kernstück von unserem Museum.» Nun hat es geklappt. Seit mehreren Jahren wurde das Ziel verfolgt, den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen eine Stimme zu geben. Umso grösser sei jetzt der Stolz, sagte Ruth Portmann weiter. Die spannenden Geschichten aus «Chly Paris» schlummerten in den Menschen. Nun sind sie präsent. «Und Corina Haller und Daniel Güntert haben sie zur Blüte gebracht», so das Kompliment der Präsidentin.
Kompliment fürs Teamwork
Miriam Rorato von der Firma «Im-Raum» und Romana Kammer setzten die Geschichten in einem interaktiven Kino in den richtigen Rahmen. Plus Zeittafel, plus Ortsbild und Erinnerungstafel. Zur Seite stand stets Museumsleiterin Petra Giezendanner. «Kompliment für diese tolle Ausstellung, auf die wir stolz sind», betonte Ruth Portmann.
Die Zeitzeugen haben die Geschichten geliefert für die Ausstellung. Und alle diese Einzelgeschichten haben laut Miriam Rorato eine Verbundenheit mit Wohlen. Mit den 32 Interviews habe sie eine «interessante Basis» vorgefunden, um zu wirken. Entstanden ist mit dem interaktiven Kino ein vielfältiges Werk. Das Publikum kann selber entscheiden, welche der 60 Geschichten abgespielt wird. «In den Interviews steckt ganz viel Wissen.» Also am besten alle 60 Videos ansehen.
Schreckgespenst, Knüppel und Schichtarbeit
Und das Ortsbild überrascht sogar Miriam Rorato: «Ich staune, wie viele architektonische Spuren in Wohlen nach wie vor vorhanden sind.» Ob Erinnerungstafel oder interaktives Kino, «am besten ist es, wenn man selber in die verschiedenen Geschichten eintaucht». Das taten die Besucherinnen und Besucher nach der Vernissage auch.
Die grösste Arbeit hatten die beiden Historiker Daniel Güntert und Corina Haller. Sie beide führten die Interviews, sammelten die Geschichten und ordneten sie ein. Und selber haben sie ganz viel dazugelernt. So schaffte es beispielsweise der Teddybär in die Arme von Corina Haller. Weitere Beispiele gefällig? Das gelbe Schreckgespenst machte so vor 70 Jahren die Runde. Gemeint war der asiatische Markt, der alles kopierte, was hier mit Handarbeit geschaffen wurde. Also schon damals gab es den billigen östlichen Markt. Oder wie war Wachtmeister Johann Nietlisbach bewaffnet? Natürlich mit einem Knüppel, den Daniel Güntert gerne präsentierte. «Oder vor hundert Jahren kannte man in der Strohindustrie bereits die Schichtarbeit», informierte Corina Haller. Dabei sei die Familienbetreuung gewährleistet gewesen, «dafür hat man keine gemeinsame Familienzeit gekannt».
Und ja, was sucht dieser Knabenurin ausgerechnet im Titel der Sonderausstellung? Den habe man benötigt, um die Strohutensilien blau zu färben, so Güntert. Tatsächlich. Dank den Zeitzeugen kam auch diese These ans Tageslicht.
Die Frage «Wie war es denn früher?» beschäftigte die beiden Historiker bei jedem Interview. «Dabei wurden wir mit vielen unterschiedlichen Antworten eingedeckt. Und in der Summe entwickelt sich dann ein Gesamtbild.»
Eine einmalige Chance
Es gibt noch etliche Geheimnisse, die Corina Haller und Daniel Güntert lüften konnten. Warum beispielsweise vor 60 Jahren diverse 16-Jährige mit Taschen voller Geld durchs Dorf gezogen sind und warum es vor 70 Jahren in der Strohindustrie ein gutes Sackgeld zu verdienen gab. Antworten gibt es im interaktiven Kino im Museum. «Die Ausstellung ist eben eine Chance, sich der eigenen Geschichte anzunähern», betonte Lokalhistoriker Daniel Güntert abschliessend. Und damit liegt er goldrichtig.
Das alles begeistert auch Petra Giezendanner. «Ohne Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hätte es dieses Projekt gar nie gegeben», so die Museumsleiterin. «Deshalb ein grosses Dankeschön, dass diese Personen den Mut hatten, ihre Erinnerungen mit uns zu teilen.»