Immer näher am Super-Gau
23.06.2023 WohlenÄrzte sind «Mangelware»
Die medizinische Versorgung in der Region bereitet grosse Sorgen. Der Fachkräftemangel ist bei Hausärzten und bei Kinderärzten spürbar. Die Kanti Wohlen nahm sich dem Problem an und versuchte mit einer ...
Ärzte sind «Mangelware»
Die medizinische Versorgung in der Region bereitet grosse Sorgen. Der Fachkräftemangel ist bei Hausärzten und bei Kinderärzten spürbar. Die Kanti Wohlen nahm sich dem Problem an und versuchte mit einer Podiumsrunde zu erörtern, wie die Situation zu verbessern ist. --dm
Podiumsdiskussion in der Kanti: «Stroh im Kopf?» – und wer die medizinische Versorgung verbessern kann
Der Ärztemangel verstärkt sich laufend. Um diesen korrigieren zu können, braucht es einiges. Das richtige Rezept wurde bei einem fachmännisch besetzten Podium in der Kanti nicht gefunden. Die zentrale Frage: Wer bemüht sich, den Job des Hausarztes attraktiver zu machen? Die Antwort ist ernüchternd.
Daniel Marti
«Stroh im Kopf? Wir können helfen!» Was für ein Titel für eine Podiumsdiskussion, die sich der medizinischen Grundversorgung der Region annimmt. Die Kantonsschule war auch der richtige Veranstaltungsort. In der Kanti den Start für die medizinische Grundversorgung anzusiedeln, das entspricht auch dem Wunsch von Kanti-Rektor Matthias Angst. «Für viele Kanti-Abgänger trifft das auch zu, für viele angehende Studentinnen und Studenten erfolgte der Start in diesen Gemäuern.» Neben der Kanti selber waren auch der Freiämter Ärzteverbund und die Gemeinde Wohlen Mitorganisatoren.
Qualitativ gut mithalten
Und das Podium war sehr vielfältig besetzt: Daniel Strub, CEO Spital Muri; Nadja Galliker, Ärztezentrum Wohlen; Doktorand Tobias Hildbrand sowie Soraja Kaddur Rice, Schülerin mit dem Ziel, Medizin zu studieren. Die medizinische Versorgung sei wahrlich ein «knackiges Thema», meinte der Kanti-Rektor, der das Podium moderierte. Warum denn junge Ärzte und junge Ärztinnen ins Freiamt kommen sollen, wollte er anfänglich wissen. Alle vier beantworteten dies mit einem Werbespot für das Freiamt. Schöne Gegend, kurzer Arbeitsweg und Verbundenheit mit dem Regionalspital Muri – das alles mögen Trümpfe sein.
«Und wenn wir uns an den Bedürfnissen der Patienten orientieren, dann können wir bei der Qualität mit der nationalen Spitze mithalten», betonte Daniel Strub, der seit sechs Jahren CEO des Spitals Muri ist. Die nationale Qualitätskommission erfasst zwar viele Daten. Aber letztlich gebe es zwischen den Zentren und den ländlichen Gegenden nur minimale Differenzen. «Und wenn wir die psychologischen Verhältnisse, die persönlichere Betreuung betrachten, schneiden Regionalspitäler oft besser ab. Denn bei uns kennen die Patienten ihre Ärzte und umgekehrt.» Ein Kantonsspital funktioniere schon eher wie eine Maschinerie. Und wo wird man schneller gesünder? Die Nähe hat hier Vorteile. «Die Nähe ist nicht zu unterschätzen», so Doktorand Tobias Hildbrand, aber sonst sei halt die Frage Regionalspital oder Zentralisierung ein ewiges Spannungsfeld, so Hildbrand weiter. «Die Qualitätsfrage begleitet mich seit ein paar Jahren», gab Nadja Galliker zu. «Wichtig ist doch, dass ich weiss, wo ich mich melden muss, und dass man miteinander redet.»
Anscheinend funktioniert es eben doch, meinte Moderator Angst. «Wichtig ist, dass ich im Team arbeiten kann», so Nadja Galliker. Ihre Generation, und als Mutter sowieso, wolle nicht mehr alleine in einer Praxis tätig sein.
Noch viele Wünsche
Warum denn ein solcher Ärztemangel herrscht, hakte der Moderator nach. Der Numerus clausus – der den Zugang zu einzelnen medizinischen Disziplinen begrenzt – war ein Thema. «Die medizinische Ausbildung ist halt die teuerste für alle Studierenden», hielt Galliker fest. Bei einem Problem bei der Grundversorgung mag eine Steuerung «teilweise absurd sein», meinte Landammann Jean-Pierre Gallati. Ob die Anzahl der Ausbildungsplätze beschränkt sein soll, darüber streiten sich die Experten. «Wir haben noch viele andere Wünsche», fügte Daniel Strub an. Was bei der Administration abgeht, sei «Wahnsinn», nahe am «Super-Gau».
Ein paar Kilometer weiter ist der Verdienst höher
Ob sie da noch Lust habe, ein Medizinstudium anzustreben, wurde Kanti-Schülerin Soraja Kaddur Rice gefragt. Ob Kinderärztin oder Ärztin, darüber macht sie sich jetzt noch wenig Gedanken. Hauptsache, Medizin. «Aber», fügt die junge Frau an, «dass beim herrschenden Ärztemangel Stu-
dienplätze beschränkt werden, das ist doch irgendwie ironisch.» Letztlich soll ein Arzt auch eine Art Manager sein, so Moderator Angst. «Es braucht viel Einfühlungsvermögen und es sind Charaktereigenschaften gefragt, die man mitbringen muss», erklärte Nadja Galliker.
Und beim Lehrgang zum Arzt gibt es laut Daniel Strub «viele Verlockungen», wo man hängen bleiben kann. «Aber wer setzt sich denn dafür ein, dass der Beruf des Hausarztes attraktiv ist?», fragte der Spital-CEO in die Runde. «Und allfällige Bewerber fahren ein paar Kilometer weiter und verdienen dann tausend Franken im Monat mehr.» Die Richtung Zürich ist dabei gemeint. Noch einen wesentlichen Punkt sprach Strub an: «Wir haben keine Lobby.»
Mehr Unterstützung
Im Freiamt gibt es laut Hildbrand eine gute Infrastruktur. «Bringt euch hier ein», so seine Forderung an die Kanti-Abgänger. Die Abgabe von Medikamenten sei ein grosses Thema, so Nadja Galliker, «das würde den Beruf attraktiver machen». Weil es eben in den Hausarztpraxen wesentliche Einnahmen generieren würde – so wie in anderen Kantonen.
Das Schlusswort gehörte der Jüngsten in der Runde, Soraja Kaddur Rice. Es wäre doch von Vorteil, wenn beispielsweise der Kanton «junge Ärzte unterstützen würde», meinte sie. Das Studium, die Ausbildung sei eine lange Zeit, «und diese Phase ist doch zu wenig lukrativ, weil man während des Studiums fast kein Geld verdienen kann».
Wichtiger Standortfaktor
Die ärztliche Versorgung sei in Wohlen ein sehr aktuelles Thema, informierte Gemeindeammann Arsène Perroud. «Die Gesundheit hat eine grosse Bedeutung. Das Wohlbefinden ist bei der Gesellschaft zentral», und bei jedem Neuzuzügeranlass werde der Gemeinderat mittlerweile gefragt, wie es denn mit der medizinischen Versorgung im Dorf aussehe.
Deshalb ist Perroud mittlerweile zur Überzeugung gekommen, «dass die Gesundheitsversorgung nicht mehr selbstverständlich ist». Das Freiamt sei vom Ärztemangel sogar stärker betroffen als andere Regionen.
«Die Gemeinde Wohlen unterstützt bestehende Praxen und wir versuchen Kontakte herzustellen.» Vor allem die fehlende Kinderarztpraxis in Wohlen bereitet grosse Sorgen. Aber alle Bemühungen brachten bisher keinen Erfolg ein. Gemeindeammann Perroud ist ein wesentlicher Punkt mittlerweile bewusst: «Die medizinische Versorgung ist zum wichtigen Standortfaktor geworden.» --dm