Im Bett sprudelten Erinnerungen
11.04.2025 MuriMaria Galizia-Fischer blickt in einem Buch auf ihre Kindheit und Jugend in Merenschwand zurück
Sieben Jahre lang hat sie daran geschrieben. «Immer im Bett», sagt Maria Galizia. Am 10. April erscheint ihr Buch «Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, ...
Maria Galizia-Fischer blickt in einem Buch auf ihre Kindheit und Jugend in Merenschwand zurück
Sieben Jahre lang hat sie daran geschrieben. «Immer im Bett», sagt Maria Galizia. Am 10. April erscheint ihr Buch «Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist?» Die 91-jährige Murianerin sagt dazu: «Es soll meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln zeigen, dass nicht einfach alles selbstverständlich ist.»
Annemarie Keusch
Es war einer dieser schönen Tage. «Ich begleitete meinen Vater gerne in den Wald», sagt Maria Galizia. Beim Holzen dabei sein, Zeit mit «Baba» verbringen. Aber an diesem Morgen braucht es richtig viel Anstrengung, bis die kleine Maria ihren rechten Fuss in den Schuh gezwängt hatte. Zwei Tage später fiel sie einfach um – ohne Grund, ohne Vorwarnung. Etwas stimmte nicht. Und wenige Tage später herrschte im Spital in Aarau Gewissheit: Kinderlähmung. «Zum Glück abgeschwächt», sagt Maria Galizia heute. Zwei Kinder seien damals in Merenschwand an der Krankheit gestorben. Obwohl abgeschwächt, ist auch bei ihr zeitlebens eine Beeinträchtigung geblieben. Das rechte Bein ist kürzer, die Schuhgrössen sind nicht an beiden Füssen gleich.
Eine Krankheit, die Angst und Schrecken auslöst. Der speziell Kinder ausgeliefert sind. «Wer das nicht erlebt hat, glaubt es fast nicht», sagt Maria Galizia. Auch die Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine italienische Hausiererin habe sie ihrer Mutter erzählt. Ganz leise. Maria Galizia erreichten nur einzelne Wortfetzen: Juden, Lager, Gas. Selbst im Radio bei der kranken Tante Babette erfuhr sie nicht mehr. Oder Tante Frida, die die kleine Maria bei ihrer ersten Postautofahrt über die Reuss warnte: «Du musst achtgeben, ennet der Reuss sind alle reformiert, aber lieb. Sie haben keine Muttergottes, die immer hilft.» «Heute ist das kaum mehr vorstellbar.»
Ernst Halter als grosser Motivator
Aber es ist die Geschichte, auf der das jetzige Leben aufbaut. Darum wehrt sich Maria Galizia mit ihrem Buch dagegen, dass solche Anekdoten und Erzählungen vergessen gehen. Vor sieben Jahren hat sie angefangen. Zum Schreiben setzte sie sich immer aufs Bett. «Da kamen die Erinnerungen am besten wieder.» Angefangen bei der Geburt schrieb sie die ersten Erinnerungen ihres Lebens auf. Grosser Motivator war ihr dabei Ernst Halter. Seit vielen Jahren pflegen sie eine enge Freundschaft. Ihm erzählte sie als Erstem von ihrem Projekt. «Er fragte immer wieder nach, ob ich Erinnerungen aufgeschrieben habe. Das braucht es auch, sonst hätte ich dieses Projekt wohl nicht zu einem Abschluss gebracht.» Ausser Halter weihte sie einige Zeit niemanden in ihre Pläne ein. Längst sind aber auch die Kinder und Enkel begeistert. Und das Umfeld ist nicht gänzlich überrascht. «Denn geschrieben habe ich immer gerne», sagt Maria Galizia. In erster Linie waren es Briefe. Buchautorin wurde sie erst jetzt, mit 91 Jahren. «Vorher hatte ich gar keine Zeit dafür.»
Sie sei geborgen aufgewachsen, sagt Maria Galizia. Die zwölfköpfige Bauernfamilie aus Merenschwand hielt zusammen. Alle hatten ihre Aufgaben. Ihre? «Ou, Schuhe putzen.» Und abtrocknen, abwaschen, betten, auf die Jüngeren aufpassen. «Wir waren alle eingespannt, aber auf eine schöne Art.» Längst vergangene Zeiten. Während ihre Enkel mehrmals jährlich in die Ferien reisen, diente früher eine Wallfahrt nach Beinwil oder ins Jonental, maximal nach Einsiedeln zur Erholung. Überhaupt, die Religion habe den Alltag geprägt. «Zur Kirche ging unser Vater, als stehe eine Hochzeit bevor, sogar rasiert war er», erinnert sie sich. Als gläubig bezeichnet sich Maria Galizia auch heute noch. «Irgendetwas Höheres ist da», ist sie überzeugt.
Von Hand Hefte mit Erinnerungen gefüllt
Sich mit 91 Jahren an die Kindheit und Jugend erinnern? Viele haben wohl schon in jüngeren Jahren vieles vergessen. «Die Erinnerungen kamen mir ganz spontan in den Sinn. Gar so viele, dass ich längst nicht alle aufschreiben konnte.» Vage Erinnerungen besprach sie mit ihren Geschwistern Julie und Josef. Im Bett sitzend notierte sie ganz vieles in Hefte – von Hand. Und das nicht nur einmal. «Als ich fertig war, las ich voller Enthusiasmus Ernst Halter vor», erzählt sie. Seine Reaktion? Da liege noch einiges an Arbeit vor ihr. Maria Galizia hat diese Arbeit auf sich genommen. «Wobei, Spass gemacht hat es nicht immer», gesteht sie. Etwa dann nicht, wenn sie kaum Zeit gehabt habe, sich dem Buch zu widmen. Sie lebt nach wie vor in einem Einfamilienhaus in Muri, Haushalt und Garten besorgt sie primär selbst. «Aber ich bin froh, dass meine Kinder mich unterstützen.» Seit einigen Jahren wohnt eine Tochter in einem Anbau auf demselben Grundstück. «Ich bin dankbar, dass vor allem auch dank ihr noch so vieles möglich ist», sagt Maria Galizia. Es gehe ihr gut. «Ausser, wenn ich zu lang im Garten arbeitete, schmerzt der Rücken.»
Die 91-Jährige hat ein bewegtes Leben hinter sich. Die Anfänge gibt sie in «Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist?» preis. Etwa auch die Geschichte, wie sie sich mit viel Durchhaltewillen den Traum, als Lehrerin zu arbeiten, ermöglichen konnte. Bei der Aufnahmeprüfung ans «Töchti» in Aarau sagte sie übrigens den Satz, den der Limmat-Verlag zum Titel kürte. «Ich kam im Jupe und mit einer ‹Gritli›-Frisur. Andere junge Frauen in offenen Haaren und wallenden Hosen.» Galizia sagte, sie sei aus dem Freiamt. «Wisst ihr, wo das ist?» «Müslistill» seien die anderen jungen Frauen gewesen.
Neue Hosen für Lesungen sind genäht
Dass früher vieles besser war, in diese Kerbe will Maria Galizia mit ihrem Buch nicht schlagen. «Das stimmt auch nicht», sagt sie. Etwa was die Berufswahl betrifft, oder allgemein die vielen Möglichkeiten, die es heute gebe. «Auch wenn diese nicht selten für Überforderung sorgen.» Galizia blieb Zeit ihres Lebens Lehrerin, in Beinwil und Merenschwand, zuletzt in Muri. In Muri war es auch, wo sie als junge Frau Rico Galizia traf – es ist der Schluss ihres Buches. «Ich könnte mir durchaus vorstellen, weiterzuschreiben», sagt sie. Aber mit 91 Jahren plane sie das nicht konkret. Heisst aber nicht, dass Galizia keine Träume mehr hat. «Weiterhin an Konzerte im KKL in Luzern zu gehen und noch einmal in die Ferien nach Rapolano zu reisen.»
Zumal zuerst «Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist?» im Fokus stehen soll. Am 7. Mai, 19 Uhr, liest sie daraus in der Kantonsbibliothek in Aarau, am 18. Mai, 11 Uhr, im Singisen-Forum in Muri. «Ich freue mich darauf», sagt sie. Ein neues Paar Hosen für die Auftritte habe ihre Freundin bereits für sie genäht.
«Ich bin aus dem Freiamt, wisst ihr, wo das ist?» ist bald in allen gängigen
Buchhandlungen erhältlich.