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17.03.2023 WohlenHistoriker Jakob Tanner sprach am Kantiforum über die Rolle der Schweiz in Europa – und welches Potenzial in ihr steckt
Wie sich die Schweiz und das Projekt Europa seit 1945 in die Gegenwart entwickelt haben, das beleuchtete der renommierte Historiker Jakob ...
Historiker Jakob Tanner sprach am Kantiforum über die Rolle der Schweiz in Europa – und welches Potenzial in ihr steckt
Wie sich die Schweiz und das Projekt Europa seit 1945 in die Gegenwart entwickelt haben, das beleuchtete der renommierte Historiker Jakob Tanner mit einem Blick in die Geschichte des Kontinents. Was wohl die wenigsten wussten: Die traditionelle Neutralitätspolitik der Schweiz ist stark mit den Nachbarländern Frankreich und Deutschland verbunden.
Celeste Blanc
Ein «beharrliches Treten an Ort und Stelle» – so umschreibt Historiker Jakob Tanner die Europapolitik der Schweiz. Schon seit jeher vermeidet das kleine Land im Herzen des Kontinents die Integration. Eine Historie, deren Ergebnis sich zuletzt im Frühling 2021 zeigte. Damals hat der Bundesrat die sieben Jahre andauernden Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU abrupt und grundlos abgebrochen. Und auch die traditionelle aussenpolitische Haltung der Schweiz sorgt innenpolitisch immer wieder für rote Köpfe. So wurde im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine einmal mehr die Frage nach der Neutralität laut. Kann sie noch gewahrt werden, oder ist sie überholt?
Mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte von Europa und der Schweiz, in der Tanner entscheidende Prozesse und Entwicklungen in der Antike, dem Mittelalter sowie der Neuzeit verortet und ihre Auswirkungen in die heutige Zeit ausmacht, versucht der Historiker, Antworten auf ebendiese komplexen Fragen zu liefern. Verdeutlicht wurde dabei vor allem eins: Die Schweiz steht sich, wenn es um ihr Verhältnis mit Europa geht, mit einer widersprüchlichen Doppelspurigkeit in ihrem eigenen Selbstverständnis vom weltoffenen Staat hin zur neutralen Insel selbst im Weg.
Zerrissenheit im Land vorbeugen
Den Ursprung der Neutralität, und damit eines der stärksten Attribute, mit der die Schweizer Politik konnotiert ist, verortet Tanner in der historischen Rivalität zwischen Frankreich und Deutschland. Eine Rivalität, die sich ab dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 zunehmend aufschaukelte, bis sie in den zwei grossen Weltkriegen im 20. Jahrhundert ihren traurigen Höhepunkt fand. Entscheidender Moment für die Bildung der Schweizer Neutralität war dabei der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dieser stellte die Schweiz vor grosse innenpolitische Herausforderungen. Der General der Schweizer Armee, Conrad Ulrich Sigmund Wille, liebäugelte mit einem Kriegsbeitritt an der Seite des Deutschen Kaiserreichs, die Romandie sprach ihre Sympathien für Frankreich aus. Spannungen, die zu eskalieren drohten. Deshalb entschied der Bundesrat, die Politik der Neutralität zu verfolgen. «Hätte sich die Schweiz für eine der beiden Kriegsparteien entschieden, wäre sie von innen auseinandergerissen worden», resümiert Tanner. Zu tief sei die «Zerrissenheit» gewesen, die nicht zuletzt zu einem tiefen Graben zwischen der deutschen und der französischen Schweiz geführt hat.
Historische Bremsspur
Als politische Strategie diente die Neutralität somit zur Vorbeugung von Konf liktpotenzial im eigenen Land, mit der auch ökonomische Vorteile einhergingen, welche die wirtschaftlichen Beziehungen zu den jeweiligen Seiten ermöglichten. Im Zuge dessen wurde die «isolationistische Schweiz» hoch propagiert.
Erstmals Gegenstand des öffentlichen Diskurses wurde die Neutralität dann während der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Umringt von Kriegsparteien wurden Stimmen laut, diese neu auszutarieren oder niederzulegen. Die Regierung hielt trotzdem an der Neutralität fest. Die Gründe waren die gleichenwie 20 Jahre zuvor. Im Nachhinein ein dunkles Kapitel in der Schweizer Geschichte. «In dieser Zeit hat man die Neutralität in vielen Belangen verletzt», weiss Tanner, der von 1996 bis 2001 in der Bergier-Kommission mitforschte, einer unabhängigen Expertenkommission, welche die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg studierte und ebendiese Verletzungen mitunter offenlegte.
Grund für dieses Festhalten an der Neutralität verortet Tanner in der während des 19. und 20. Jahrhunderts zunehmend nach aussen eingenommenen Selbstdarstellung. Aufgrund der Konflikte in Europa, des Wegs in die Moderne, aber auch des Wunsches, mondän zu sein, entwickelte sich zunehmend ein unvereinbares Selbstverständnis: «Einerseits verstand sich die Schweiz mit der ganzen Welt, vor allem mit ganz Europa, in Kontakt und dank den Bahnverbindungen vernetzt. Andererseits präsentierte es sich während der Kriegsjahre stets als Wagenburg, die sich um die Nationalflagge schart und den anderen ihren Stachel zeigt», pointiert Tanner mit zwei passenden Karikaturen. Im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland, die sich nach 1945 von der einst hasserfüllten «Erbfeindschaft» in der neu aufgebauten Europäischen Union zu starken Koalitionspartnern wandelten, blieb die Schweiz an ihrem «Image» hängen.
Tanner verdeutlicht diese Dissonanz unter anderem an Diskussionen über eine schweizerische Beteiligung an europäischen Staatszusammenschlüssen, beispielsweise der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Vorgängerin der EU. Auch hier zeigt sich das eruierte Paradoxon: Obwohl die Abwehrhaltung zu einem Beitritt seither vehement bestehen blieb, ist die Schweiz so stark wie kein anderes Land in den europäischen Binnenmarkt eingebunden und übernimmt zudem praktisch alle Regelwerke. «Man will europafähig sein, um nicht beitreten zu müssen.» Gemäss Jakob Tanner ist diese Haltung Resultat einer «historischen Bremsspur», die sich bis in die Gegenwart zieht.
Zur Entwicklung beisteuern
Doch wo liegt die Lösung, um diese Spirale von Widersprüchlichkeit zu durchbrechen? Tanner appelliert, dass sich die Schweiz, statt sich als Einzelkämpferin zu verstehen, ihrer potenziellen Vorbildrolle in Europa bewusst werden soll. Schliesslich sei das hiesige politische System das Paradebeispiel dafür, wie eine föderalistische, direktdemokratische Staatskonstruktion funktionieren kann, die auch für Europa gut wäre. «Wir sollten uns an innereuropäischen Aufbauprozessen aktiv beteiligen. Die Schweiz hat mit ihrer eigenen politischen Geschichte so viele Erfahrungen, mit denen sie Wirksames in der europäischen Entwicklung beisteuern könnte.» Dabei nennt der Historiker etwa die Gewaltenteilung durch Föderalismus, Bürgerpartizipation durch direkte Demokratie und das Miteinander kultureller Vielfalten in einer bundesstaatlichen Einheit.
Tanner betont, dass eine Zusammenarbeit in Zukunft je länger, je unumgänglicher sei. Denn keine Nation kann die grossen Probleme der Welt, wie etwa den Klimawandel, die zunehmende globale Mobilität oder die europäische Sicherheitsarchitektur, allein lösen. Oder Antworten auf offene Fragen für den Umgang mit der Digitalisierung oder der Biotechnologie f inden. «Das geht nur in Kooperation. Deshalb sollte die Schweiz einen neuen Anlauf nehmen, um im europäischen Raum ihre Möglichkeiten einbringen und mitentscheiden zu können, was passiert. Schliesslich hatte das, was in Europa passiert, schon immer einen Einf luss auf die Schweiz – trotz Neutralität und unerwünschter Integration.»
Zur Person
Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich und hatte dort bis 2015 den Lehrstuhl an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Wirtschafts- und Finanzgeschichte der Schweiz, die Geschichte der Schweiz im europäischen Kontext sowie die Wissensund Wissenschaftsgeschichte. Von 1996 bis 2001 war er Mitglied der Bergier-Kommission. Er ist Gründungsmitglied des Zentrums für Wissen der Universität Zürich und ETH Zürich. Jakob Tanner ist eine gefragte Persönlichkeit, wenn es um die Geschichte der Schweiz geht, zuletzt hinsichtlich der Neutralitätsfrage der Schweiz im Zuge des Ukraine-Kriegs. Dazu nahm er Stellung in verschiedenen Medien, war im Schweizer Fernsehen zu sehen und veröffentlichte Gastbeiträge zu diesem Thema. --cbl