Er kennt alle Strassen und Zunamen
22.08.2025 Region Oberfreiamt, Boswil«Weisch no»: Franz Werder hat die Entwicklung von Boswil hautnah miterlebt
Wasser- und Abwasserleitungen. Strom- und Telefonkabel. Lange Zeit wusste Franz Werder im ganzen Dorf, wo diese durchführen. Noch heute, 90-jährig, verfolgt er, was im Dorf ...
«Weisch no»: Franz Werder hat die Entwicklung von Boswil hautnah miterlebt
Wasser- und Abwasserleitungen. Strom- und Telefonkabel. Lange Zeit wusste Franz Werder im ganzen Dorf, wo diese durchführen. Noch heute, 90-jährig, verfolgt er, was im Dorf läuft. «Es ist verrückt, wie immer weiter gebaut wird», sagt er. Und er erzählt davon, warum er Strassennamen und -nummern auswendig lernte.
Annemarie Keusch
Der Tisch in seinem Zimmer im Solino Boswil ist grösser geworden. «Damit ich besser Zeitung lesen kann», sagt Franz Werder. Seit knapp drei Jahren ist das Altersheim in Boswil sein Zuhause. Anfangs bewohnte er ein Zimmer zusammen mit seiner Frau Anneliese, seit deren Tod ist er alleine hier. «Es gefällt mir», sagt er. «Sie schauen gut zu uns.» Er lächelt. Seit rund eineinhalb Jahren braucht er mehr Betreuung, nach einem Sturz und einem Oberschenkelhalsbruch ist Franz Werder an den Rollstuhl gefesselt. «Das ist am schwierigsten, weil nichts mehr alleine geht.» Aber er nimmt sein Schicksal an, erfreut sich am Positiven. An den vielen Besuchen zum Beispiel. «Familie, Freunde, Bekannte. Dafür bin ich sehr dankbar.» Und er bleibt interessiert, vor allem an dem, was im Dorf läuft. Was hier gebaut wird.
Das Interesse am Bauen kommt nicht von ungefähr. Viele Jahre führte er zusammen mit Franz Huber die Firma Huber und Werder Tiefbau. «Ich hatte immer Freude an Maschinen», sagt Werder, der als Jüngster zusammen mit sechs älteren Brüdern auf einem Bauernhof an der Oberdorfstrasse aufgewachsen ist. «Heute bin ich der Einzige, der noch lebt.» Eine Lehre absolvierte der heute 90-Jährige nie. «Eigentlich wollte ich damals Elektriker werden. Warum ich es nicht wurde, weiss ich nicht.» Franz Werder lächelt. Er trauert diesem einstigen Berufswunsch nicht nach. Nach 20 Jahren bei der Abt AG machte er sich mit Franz Huber, einem Arbeitskollegen, selbstständig. Und das in einer Zeit, in der die Baubranche nicht boomte. Und das, nachdem er zusammen mit seiner Frau Anneliese ein Haus gebaut hatte und Vater von vier Kindern geworden war. «Ja, es war ein Risiko», gesteht er. Gezweifelt habe er aber nie. Und er sollte recht behalten. Natürlich in Boswil, aber auch bis nach Dintikon und Sarmenstorf war ihre Firma gefragt. Galt es, Leitungen zu verlegen, zu sanieren oder Brunnstuben umzubauen, wurden sie beauftragt.
Mehr Häuser, mehr Strassen, mehr Werkleitungen
Heisst, dass das Wachstum in den Dörfern und die neuen Erschliessungen, die damit einhergingen, ihnen auch Aufträge bescherten. Trotzdem zögert Franz Werder auf die Frage, ob denn die bauliche Entwicklung in Boswil positiv sei. «Ich mochte es, im Dorf ganz viele Leute zu kennen. Das hat natürlich dadurch abgenommen», sagt er. Häuser und Strassen wurden mehr, Bauland weniger. Dass sich seine Familie den Traum des Eigenheims erfüllen konnte, darauf ist Franz Werder stolz. Dies nicht in Boswil zu tun, sei gar nie zur Diskussion gestanden. «Wir hatten es immer gut hier.»
Nur Zuname reichte nicht mehr
Und eben, er kannte lange Zeit alle. Auch weil er sich engagierte, etwa in der Feuerwehr. «Ich war Chauffeur des ersten richtigen Feuerwehrautos, das wir hier hatten», sagt er. Das war der Hauptgrund, weshalb er alle Strassennamen und -nummern auswendig lernen musste. Werder erinnert sich gut an die Zeit, als es diese noch nicht brauchte und noch nicht gab. Die Zunamen regelten alles. «S Becke», «s Franze», «s Ättijokebbe» – Letzteres ist der Zuname der Familie, aus der Franz Werder kommt. «Ich kannte alle Leute nur so», gesteht er. Und auch heute – er weiss noch alle Zunamen. Gerade hier im Altersheim unter der älteren Bevölkerung werden sie noch rege verwendet. «Aber sie werden wohl mit den Jahren verschwinden.» Strassennamen und -nummern helfen heute bei der Orientierung. «Wenn ich heute in der Feuerwehr wäre und jemandem sagen würde, dass es bei ‹s Sattler Uelis› brennt. Kaum jemand wüsste, wohin es zu eilen gelte.»
Froh um Zimmer im Solino
Dass er sein ganzes Leben lang in Boswil gelebt hat, ist für Franz Werder eigentlich überhaupt nichts Besonderes. «Ich gehöre einfach hierhin.» Gedanken darüber, ob es anderswo nicht schöner zu leben wäre, habe er sich schlicht nicht gemacht. Auch seine Frau, die aus Österreich kam, fühlte sich schnell wohl im Dorf. «Zum Glück. Wir fanden hier gute Freunde.» Trotzdem sagt Werder ganz pragmatisch: «Leben liesse es sich wohl überall.» Für ihn passts in dem Dorf am besten, das er seit Jahren kennt. Das er im Bereich der Werkleitungen mitgebaut hat. Und das er in den letzten Jahren seines Berufslebens als Werkhof-Mitarbeiter nochmals anders kennenlernte. Die Entwicklungen in Boswil verfolgt er nach wie vor aufmerksam. Er weiss, was läuft. Etwa, dass die Wasserversorgungsgenossenschaft morgen Samstag ihr 125-Jahr-Jubiläum feiert. Schliesslich hat er über Jahre eng mit der Genossenschaft zusammengearbeitet, später war einer seiner Söhne viele Jahre Brunnenmeister.
Umso froher war er, dass vor knapp drei Jahren ein Zimmer im Solino frei war. «So spät im Leben noch in ein anderes Dorf zu ziehen, das wäre nicht ideal gewesen.» Hier in Boswil fühlt er sich wohl. Hier kennen ihn die Leute, hier kennt er die Leute. Hier ist er daheim – ob das Dorf nun mehr oder weniger Strassen und Einwohner zählt.
«Weisch no»
In der diesjährigen Sommerserie «Weisch no» treffen sich Redaktoren und Redaktorinnen mit Menschen, die (fast) ihr ganzes Leben im gleichen Dorf verbracht haben, und sprechen mit ihnen darüber, wie es in ihrem Dorf früher ausgesehen hat, welche Erinnerungen an die alten Zeiten sie haben, was sie allenfalls vermissen, was heute vielleicht besser ist als früher und vielerlei mehr.