Der Werwolf, der an Ostern kam
06.04.2023 Region Bremgarten, Region Wohlen, Region Oberfreiamt, Region Unterfreiamt, WohlenDie Ostergeschichte von Piu, dem Fussballer und gläubigen Christen
Fabrício Nogueira Nascimento (Piu)
Ein schickes Restaurant im Freiamt. Ich führe meine bezaubernde Frau Joyce aus. Wir sind gemeinsam mit einem befreundeten Paar zum Abendessen verabredet. Wir sind früher da, bestellen uns ein Wasser. Still, nicht prickelnd. Als unsere Freunde auftauchen, schaut der Mann sofort auf das Wasser, sein Blick schweift zu mir. Er fragt: «Kein Bier? Bist du krank?» Es ist nicht so, dass ich Alkoholiker bin, aber im Restaurant bestelle ich mir doch meistens eine Stange Bier. Aber nicht heute. Nicht jetzt. Nicht in der Fastenzeit.
Meine Frau und ich verzichten dieses Jahr. Wir fasten. Über 40 Tage lang. Vom Aschermittwoch bis Ostern. Vom 22. Februar bis zum 8. April. Kein Alkohol, keine Süssgetränke, keine Süssigkeiten. Im letzten Jahr verzichteten wir in dieser Zeit auf Fleisch. Wieso wir das tun? Als gläubige Katholiken sind wir mit diesen Bräuchen und Ritualen erzogen worden.
Reis und Bohnen – und manchmal Schoggi-Eier
Meine Frau Joyce und ich, wir kennen uns schon lange, seit unserer Kindheit. Wir stammen beide aus Pereira Barreto, einer Gemeinde mit 25 000 Einwohnern in Brasilien. Und dort haben wir als Kinder zwar nicht gefastet, aber wir haben gesehen und beobachtet, wie andere Leute das gemacht haben. Und wir haben im Religionsunterricht gelernt, wie Jesus Christus 40 Tage lang in der Wüste nicht gegessen und nichts getrunken hat. Es heisst: Verzicht nimmt nicht. Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen.
Ich erinnere mich noch lebhaft an meine Kindheit. Und an diese Fastenzeit. An den Aschermittwoch, wo es jeweils begann. An die Karwoche, den Palmsonntag, die Prozession – und so weiter. Am Karfreitag war Fleischverbot. Immer. Wir haben entweder Fisch oder Spiegeleier gegessen. Bei uns gab es zudem oft Reis und Bohnen. Wir haben uns immer riesig gefreut auf den Ostersonntag. Sehnlich haben wir uns diesen Tag herbeigewünscht. Es war der Tag, an dem viele Menschen zu Besuch gekommen sind – und wir unsere Schokoladen-Ostereier bekommen haben. Aus finanziellen Gründen kam ich nicht in jedem Jahr in diesen Genuss. Manchmal musste ich zu den Eltern eines Kollegen, damit ich doch ein Stück Schokolade abgreifen konnte.
Wir waren acht Kinder – und eines starb
Zu Ostern kommen die Erinnerungen an die Kindheit hoch. Wir waren acht Kinder, alles Jungs. Ich war der Zweitjüngste, Nummer 7. Wir haben in einem kleinen Haus gewohnt und zu dritt im Bett geschlafen. Der älteste Bruder hiess Osmar und war 18 Jahre älter als ich. Er nahm mich oft mit an den Markt. Die Fahrt in seinem VW-Bus war Freiheit pur. Am Markt verkaufte er Früchte und Gemüse. Die Beziehung zwischen mir und Osmar war intensiv und sehr liebevoll. Der Schock, als er vor wenigen Jahren starb, sass tief. Mein Glaube wurde auf die Probe gestellt. Doch Gott und Jesus Christus gaben mir Kraft. Wie so oft. Bei meinen vielen Verletzungen während der Zeit als Profifussballer gab mir der Glaube grossen Halt. Ich glaube fest, dass es irgendetwas gibt, das auf uns achtet. Ich glaube nicht an Zufälle. Alles hat seinen Grund. Manchmal sieht man es nur nicht sofort.
Beten vor den Spielen
Ich bin sicherlich kein Heiliger. Aber Gott spielt in meinem Leben eine grosse Rolle. Wenn ich über den «Niederwiler» fahre und das grosse Kreuz sehe, dann mache ich immer das Kreuzzeichen. Kopf, Brust, linke Schulter, rechte Schulter. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Vor den Spielen des FC Muri mache ich immer einen Halt bei der Grotte in Waltenschwil. Ich bete, dass sich niemand verletzt. Und ich zeige Dankbarkeit. Es sind die kleinen Dinge des Glaubens, die mir viel Kraft geben.
Die Angst vor «Zaião»
Es gab bei uns im Dorf einen Mann namens José Bezerra. Bekannt war er als «Zaião». Der Werwolf. Es war ein Mann, zirka 60 Jahre alt, überall hatte er dunkelschwarze, dicke Haare. Wirklich überall. Auch dort, wo andere Menschen keine Haare haben. Am Rücken, auf der Oberfläche der Hände. Und alle erzählten sich dieselbe Geschichte: Wenn es Vollmond wird, dann mutiert der haarige José Bezerra zum Werwolf. Und nachts mache er Jagd auf die Buben und Mädchen unserer Stadt. Deswegen waren wir spätestens beim Eindunkeln zu Hause. Kein Kind traute sich bei Dunkelheit aus dem Haus.
Doch manchmal ging es nicht anders. Ich kann mich noch gut erinnern an einen Abend vor über 30 Jahren. Ich war 14 Jahre alt. Auf dem Heimweg von einem Kollegen hörte ich ein Rascheln im Gebüsch. Mein Herz raste wie verrückt. Ist es der Werwolf? Ich blickte nur noch nach vorne und wollte so schnell wie möglich nach Hause. Ich glaube, ich bin so schnell gesprintet, dass ich sogar Usain Bolt überholt hätte.
Für uns Kinder war diese Geschichte enorm prägend. Ich werde das nie vergessen – und vermutlich immer mit Ostern verbinden. Denn die Werwolf-Geschichte erzählte man sich immer zur Fastenzeit. Übrigens: Eine andere Legende in Brasilien besagt, dass – wenn eine Familie sieben männliche Kinder hat – dann muss der Erstgeborene das Kind Nummer 7 taufen, sonst würde es zu einem Werwolf mutieren. Osmar war also mein Götti und durfte mich taufen – und so wurde ich selbst nicht zum Werwolf. Mit einem Lachen blicke ich auf diese Legenden zurück – und bin natürlich froh, kein Werwolf zu sein.
Dankbar – auch für die kleinen Dinge
Jetzt sitze ich hier 40 Jahre später in diesem schicken Restaurant im Freiamt. Mein Kumpel kann nicht ganz verstehen, wieso ich auf so viel verzichte und mir das antue. Er fragt mich, wieso ich faste. Ich antworte: «Aus Dankbarkeit.» Ich danke Jesus Christus, dass er sich für mich und meine Sünden geopfert hat. Ich bin dankbar für das Leben, das ich habe. Dankbar für meine wundervolle Frau, meine beiden wundervollen Söhne. Dankbar für meine Freunde. Dankbar, dass wir gesund sind.
Ich bin aber auch irgendwie dankbar für die Schokoladen-Ostereier, die ich als Kind nicht immer bekommen habe. Diese Erfahrung hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich glaube, dass ich ein Mensch bin, der die kleinen Dinge zu schätzen weiss. Und ich habe immer die Hoffnung, dass es morgen besser sein kann. Man muss aber daran glauben, positiv sein – und natürlich auch etwas dafür tun, damit es besser wird.
Lernen, genügsam zu sein
Ostern und die besondere Fastenzeit. Sie hilft mir. Es heisst: Fasten heisst lernen, genügsam zu sein, und sich weigern, in Materie zu ersticken und sich von allem Überf lüssigen lächelnd zu verabschieden. Nun, in meinem Fall verzichte ich nur auf Bier, auf Süssgetränke – und auf die Schokoladen-Eier. Ich tue dies aus Dankbarkeit für das wundervolle Leben, das ich habe. Und ich weiss jetzt schon, dass mein erstes Bier und die erste Schokolade nach der Fastenzeit besonders fein schmecken werden. Und ich habe jetzt schon drei Kilogramm abgenommen.
Frohe Ostern.
Über den Autor: Am 1. August 1996 betrat der Brasilianer Fabrício Nogueira Nascimento (kurz: Piu) erstmals die Schweiz. Er fühlte sich «irgendwie sofort heimisch», wie er sagt. Der Profifussball war sein Traum. Und diesen erfüllte er sich. Er spielte für Luzern, Kriens, Mannheim, Schaffhausen und Wohlen. Im Juli 2002 erzielte Stürmer Piu das erste Tor für den FC Wohlen in der NLB-Geschichte, spielte (mit Unterbrüchen) mehrere Saisons in den Niedermatten und schoss dabei über 100 Tore. Piu lebt seit über 20 Jahren in Wohlen und liess sich einbürgern. Der 46-Jährige ist verheiratet mit seiner Jugendliebe Joyce. Gemeinsam haben sie zwei Söhne, Luca und Leonardo (die beide auch Fussball spielen). Nach seiner Aktivkarriere war Piu Trainer beim FC Wohlen, FC Mutschellen und aktuell beim FC Muri. Piu arbeitete bei der Robert Huber AG (Villmergen und Windisch) in der Autoaufbereitung. Nun ist er bei der Auto Kunz AG in Wohlen.