Der Pionier und Lebensretter
13.06.2025 Wohlen, PorträtGestern Donnerstag, 12. Juni, war es 50 Jahre her: Kurt Neeser vom Rettungsdienst verunglückte tödlich
Er war so oft als Erster an einer Unfallstelle und somit auch Hoffnungsträger für verletzte Menschen. Für ihn selbst kam die Hilfe zu spät. ...
Gestern Donnerstag, 12. Juni, war es 50 Jahre her: Kurt Neeser vom Rettungsdienst verunglückte tödlich
Er war so oft als Erster an einer Unfallstelle und somit auch Hoffnungsträger für verletzte Menschen. Für ihn selbst kam die Hilfe zu spät. Kurt Neeser verunglückte vor 50 Jahren. Als Lebensretter war er weit herum bekannt – und sehr geschätzt. Die Erinnerung lebt noch. Vor allem am Todestag.
Daniel Marti
«Heute noch werden wir auf diesen Tag angesprochen», sagt Hansruedi Neeser. Der Donnerstag, 12. Juni 1975, ist gemeint. Es war dieses tragische Ereignis, das für die Familie Neeser und das Unternehmen so unglaublich viel veränderte. Kurt Neeser, der Pionier der Ambulanz, der unzählige Leben rettete, wurde in einen Verkehrsunfall verwickelt. Unverschuldet. Auf der Höhe der Badi Villmergen. Auf der sogenannten Todesstrasse. Kurt Neeser überlebte den Unfall nicht, sein Sohn Hansruedi war dabei, überlebte schwer verletzt mit Milzriss und Rippenbruch. Er erinnert sich nicht mehr an den Unfall, einzig das Stöhnen seines Vaters im Rettungswagen hat er heute noch präsent. Erst nach der Beerdigung wurde Hansruedi Neeser mitgeteilt, dass sein Vater im Spital Aarau gestorben ist. Todeszeitpunkt: 12.45 Uhr.
Der eigene Rettungsdienst kam an den Unfallort
Damals war Hansruedi siebenjährig, sein Bruder Kurt war 17. Dieser 12. Juni begleitet die beiden nun seit 50 Jahren. Zusammen blättern sie im Fotoalbum. Dort ist alles Wesentliche abgelegt: Unfallbericht, Todesschein (geboren 6. Februar 1935, gestorben 12. Juni 1975), Spitalrechnung, Ausweise des Vaters, Bilder vom Grab, diverse Nekrologe, sogar die Berichterstattung über die Gerichtsverhandlung des schuldigen Lenkers ist im Album archiviert.
Wegen fahrlässiger Tötung wurde der Schuldige, ein Mann aus Staufen, vom Bezirksgericht Bremgarten zu drei Monaten bedingt und 1200 Franken Busse verurteilt. Der damalige Präsident des Bezirksgerichts, Peter Wertli, führte die Verhandlung und sprach das Urteil.
Es war eine Fahrt mit dem Privatwagen. Und eben nicht mit der Ambulanz. Lange hielt sich der Mythos, dass Kurt Neeser bei einem Einsatz bei schneller Fahrt ums Leben gekommen sei. «Er sagte noch zu mir, dass ich die Gurten im Auto tragen soll», erinnert sich sein jüngerer Sohn. Vielleicht hat ihm genau das sein Leben gerettet.
Das Schicksal wollte es so, dass der Rettungsdienst Neeser an den Unfallort beordert wurde. Per Funk informierte seine Frau Margrit ihren Mann und ihren Sohn, dass es auf der Todesstrasse einen Unfall gegeben habe … den Funkspruch hört er nicht mehr. Das Funkgerät, weit ins Feld geschleudert, war immer noch in Betrieb, als die Ambulanz am Unfallort eintraf. Die Mitarbeiter von Neeser mussten ihren Chef samt Sohn vor Ort bergen und betreuen. Eine Embolie (plötzlicher Verschluss eines Blutgefässes) nach einem Oberschenkelbruch war dann die Todesursache.
Bekannt durch eine TV-Sendung
Die Unfallmeldung ging rasend schnell durch das ganze Land. Denn Kurt Neeser war der Schweizer Ambulanz-Pionier. Ihm wurden etliche Zeitungsartikel gewidmet, über ihn und sein Wirken gab es schon früh eine Fernsehdokumentation. Die «Antenne», ein Infomagazin des Schweizer Fernsehens, das zwischen 1962 und 1974 ausgestrahlt wurde, brachte beispielsweise den Lebensretter aus Wohlen dem nationalen TV-Publikum näher.
Die Carrosserie und der Abschleppdienst waren die Berufung von Kurt Neeser. Weil er oft mit seinem Abschleppdienst frühzeitig und als Erster an einem Unfallort eintraf und die verletzten oder eingeklemmten Menschen auf Hilfe warten mussten, gründete er 1966 den Rettungsdienst Neeser. «Wir waren auch die Ersten, die ein Funkgerät hatten», erklärt Kurt Neeser. Dieses wurde meistens von Margrit Neeser bedient. Zu Anfangszeiten verlief alles parallel: Arbeit in der Carrosserie, Alarm über Funk, Hände waschen, ab in die Ambulanz. «Er lebte eben für die Carrosserie und für den Rettungsdienst», so Kurt Neeser, der gerne ein Beispiel nennt. Am 8. April 1969 war dieser Knall, Richtung Dottikon ein grosser Pilz. «Da schauen wir mal nach, sagte mein Vater, und er ist dann erst zwei Tage später wieder nach Hause gekommen.» Die Katastrophe, die Explosion der «Pulveri», forderte 18 Tote und über 40 Verletzte – und Kurt Neeser senior leistete Hilfe vor Ort, so gut es eben ging.
Die ersten Ambulanzwagen selbst konstruiert
Den Menschen in Notlagen helfen, das wollte der Firmengründer unbedingt. «Wir dürfen das sagen: Er hatte schon ein hohes Ansehen. Er war eben ein echter Pionier», so sein Sohn Hansruedi. Und wenn man sich heute vorstellt, mit welchen Rahmenbedingungen ein Rettungsdienst damals arbeiten musste, dann seien Ansehen und Respekt noch viel grösser. «Damals gab es keine Autos, die als Rettungswagen gebaut waren. Er musste das selbst konstruieren.» Erst wurde ein Toyota umgebaut, dann ein Ford. Bis zu 300 Arbeitsstunden steckte er in einen solchen Autoumbau.
Und früher gab es keine Sanitätsnotrufnummer 144. Die normalen Telefonnummern mussten genügen. Kurt Neeser kennt sie heute noch auswendig. Früher galt die 636 38, dann 622 88 44.
Er hat stets gross gedacht
Der 12. Juni vor 50 Jahren war ein tiefer Einschnitt. Aber die Auswirkungen waren im Rückblick nicht dermassen gravierend. «Die Mitarbeiter wollten unbedingt weitermachen», sagt Kurt Neeser. Das einzige Problem habe die Gemeinde Wohlen dargestellt, «denn die wollte die ganze Firma versiegeln». Kurt Neeser senior wurde nur 40 Jahre alt, «und nichts war geregelt, alle haben dann aber mitgezogen», sagen seine Söhne. Aber eines wissen sie ganz genau: «Unser Vater hat vieles richtig gemacht.» Als er das Land draussen an der Bremgarterstrasse gekauft hat, sagten viele Leute: «Der Neeser, der spinnt.» Dabei stehe der gesamte Betrieb heute an einer «sehr guten Lage». Er habe damals eben gross gedacht, fügen seine Söhne an.
Kurt Neeser war gesellig, hat allen geholfen, nicht nur auf der Strasse, er war sozial eingestellt. Und für die EVP nahm er Einsitz im Einwohnerrat. Sein älterer Sohn Kurt folgte ihm später ins Dorfparlament, allerdings bei der FDP.
Noch heute ein Lebensretter
Der gestrige Todestag war für beide Söhne ein Tag wie jeder andere, sagen sie. Trotzdem war es der Moment zum Innehalten. «Viele Menschen haben ihm viel zu verdanken, das gilt für die gesamte Region», betont Hansruedi Neeser. «Man hat unseren Vater als Lebensretter gekannt, und so spricht man heute noch im Dorf über ihn.» Vor allem bei Kurt Neeser junior sind solche Würdigungen präsent, als 16- und 17-Jähriger durfte er oft als rechte Hand des Vaters dabei sein. Da waren auch etliche tragische Unfälle mit Todesfolge dabei. «Ich habe einfach geholfen, dort, wo es mich brauchte», sagt er – und klingt mit dieser Einstellung nach seinem Vater. «Früher gab es für unsere Einsätze noch grosse Dankbarkeit. Heute ist leider vieles selbstverständlich», fügt er noch an.
Die Entwicklung ist gigantisch. Im ersten Jahr wurden rund 200 Einsätze gefahren. Kurt Neeser junior ist inzwischen pensioniert, und die Rettungsdienst Neeser AG ist immer noch rund um die Uhr im Einsatz. Mit 16 Angestellten und drei Einsatzwagen. Dies ist das Vermächtnis von Kurt Neeser senior – wohl Lebensretter und Rettungsdienstpionier für die Ewigkeit.