Das wird er nie vergessen
14.02.2023 MuriEin Murianer im Erdbebengebiet in der Türkei
Es sind Bilder, die schwer zu ertragen sind und die jeden Tag in die Stuben der ganzen Welt gesendet werden. Und es sind Bilder, die Philippe Knecht, Gastkolumnist dieser Zeitung, seit letztem Dienstag täglich sieht. Er ist ...
Ein Murianer im Erdbebengebiet in der Türkei
Es sind Bilder, die schwer zu ertragen sind und die jeden Tag in die Stuben der ganzen Welt gesendet werden. Und es sind Bilder, die Philippe Knecht, Gastkolumnist dieser Zeitung, seit letztem Dienstag täglich sieht. Er ist als Mitglied der Rettungskette Schweiz in Hatay, im Süden der Türkei, im Einsatz. Dort, wo auch nach einer Woche noch Lebende geborgen werden, zuletzt auch zwei Kinder. «Was mich am meisten beeindruckt? Die Überlebensfähigkeit des menschlichen Körpers.» Eine Frau, die gerettet werden konnte, habe drei Tage bei eisigen Temperaturen und nur mit einem Pyjama bekleidet und barfuss überlebt. «Ohne Wasser. Dass wir sie retten konnten, das werde ich nie vergessen.» --ake
Emotionen in reinster Form
Knapp eine Woche lang suchte Philippe Knecht im Süden der Türkei nach Verschütteten
Vor gut einer Woche hat ein Erdbeben im Süden der Türkei und in Syrien den Ausnahmezustand ausgelöst. Hunderte Helfer sind in den Krisengebieten im Einsatz. «Es schmerzt, nicht überall und jedem helfen zu können», sagt Philippe Knecht, der in der türkischen Stadt Hatay mithilft, Verschüttete lebend zu bergen.
Annemarie Keusch
Eine deutsche Zeitung meldete gestern, dass die Zahl der Todesopfer mittlerweile bei 35 000 sei. Einen Tag zuvor meldete die gleiche Zeitung noch 10 000 Todesopfer weniger. Es wird befürchtet, dass über 50 000 Personen vom Erdbeben getötet wurden. Es ist ein Ausmass, das man sich aus der Distanz nicht vorstellen kann, obwohl die Bilder einem das Leid tagtäglich vor Augen führen. Mittendrin ist der junge Murianer Philippe Knecht. Seit einer Woche sucht er in den Trümmern der türkischen Stadt Hatay nach Überlebenden. Gestern Montag ging es nach Schlussbesprechungen in Adana zurück in die Schweiz.
Knecht meldet sich via Sprachnachricht. Ob diese überhaupt ankommen wird, das wusste er nicht. «Das Netz ist verständlicherweise sehr schlecht», sagt er. Seine Stimme wirkt nicht bedrückt. Und das trotz der Zerstörung, die er jeden Tag sieht, trotz der Verzweiflung in den Augen der Personen, trotz dem Leid, das ihn umgibt. Er sagt auch, dass es ihm den Umständen entsprechend gut gehe. «Im Einsatz gilt es, eine notwendige emotionale Distanz zu wahren», sagt er. Der Fokus liege einzig und alleine darauf, Menschenleben zu retten. «Klar, die Situation ist extrem tragisch und traurig und es schmerzt, nicht überall und allen helfen zu können.» Das Beste zu geben, das helfe, die schlimmen Bilder, die sich in sein Gedächtnis brennen, besser verarbeiten zu können. «Zudem haben wir psychologische Betreuung zur Verfügung und besprechen die Erlebnisse untereinander.»
Sein erster Einsatz
Philippe Knecht ist Student. Dass er nun seit einer Woche in der Türkei im Einsatz steht, kam auch für ihn überraschend. «Während des Dienstes bei den Rettungstruppen der Armee meldete ich mich als Freiwilliger für das Kontingent der Armee in der Rettungskette.» Am Ende der Wehrpflicht durchlief er zudem einen Bewerbungsprozess, um bleiben zu dürfen.
Der Rettungskette Schweiz gehört Knecht also schon länger an. Der Einsatz in der Türkei war aber sein erster. «Mehrmals im Jahr finden in Wangen an der Aare oder in Epeisses Übungen statt, wo wir für den Ernstfall trainieren.» Nun wurden die im Training erlangten Fertigkeiten also erstmals im Einsatz gebraucht.
Von der Skipiste via Flughafen in die Türkei
Frühmorgens sei er alarmiert worden und habe Bereitschaft gemeldet. Trotzdem galt es das Aufgebot abzuwarten, Knecht tat dies auf der Skipiste, als Begleitperson an einem Schulskitag. «Nach drei Abfahrten klingelte mein Handy erneut, ich packte meine Ski, fuhr von Schwarzsee nach Muri, sammelte mein Material ein und begab mich an den Flughafen nach Kloten.»
Knapp eine Woche dauert der Einsatz. Rund um die Uhr ist die Rettungsgruppe Schweiz auf zwei Schadenplätzen und in Schichtablösungen an der Arbeit. Ein gemeinsames Büro der UNO-zertifizierten «USAR-Teams» koordiniere mit den türkischen Behörden die Sektorenzuweisung in der Stadt. «Innerhalb der Sektoren haben die Teams Einsatzfreiheit», erklärt Knecht. Unterstützt werden die Teams von Suchhunden des Vereins Redog. «Als Retter suche ich mit meinen Kameraden und schwerem Gerät nach Verschütteten in den Trümmern der zerstörten Gebäude», erzählt Philippe Knecht. Teamleiter erkunden diese zuerst, nachher werden sie mit Suchhunden und Kameras abgesucht. «Bei bestätigten Lebenszeichen kommen wir Retter zum Einsatz.»
Kebab auf dem Schadenplatz
80 Leute umfasst die Rettungskette Schweiz total. Ab dem Regaterminal habe sie ein Swiss-Flugzeug nach Adana gebracht, von dort ging die Reise drei Stunden lang in Bussen weiter nach Hatay. Philippe Knecht beschreibt es so, dass die Stadt über Nacht unbewohnbar geworden sei. «Nur noch Schuttberge.» Gleichzeitig erlebe er eine grosse Solidarität, über die Sprachgrenzen hinaus. «Es sind Emotionen in ihrer reinster Form», beschreibt er es. Neben all der Trauer und dem Leid gebe es auch Glücksmomente, wenn jemand gerettet werden konnte oder wenn es zu einem Wiedersehen kommt, obwohl der Vater, der Bruder oder die Tochter totgeglaubt war. «Es gab auch schon Leute, die uns Kebab an den Schadenplatz bringen wollten.»
Französisch, Englisch, teils gar Deutsch – wer von den Einheimischen Fremdsprachen spricht, fungiere als Übersetzer und helfe bei der Organisation von Transport, Wasser und Benzin oder bei der Kommunikation mit Verschütteten. Angst, sich bei den Einsätzen selbst in Gefahr zu bringen, habe er nicht. «Ein Bauingenieur in der Truppe stellt sicher, dass wir uns nicht in Trümmer begeben, die instabil sind.» Und mögliche Nachbeben? «Aufgrund dieser Gefahr sind wir in einem Zeltdorf untergebracht.»
Gestern Montag trat Philippe Knecht die Heimreise in die Schweiz an. Hier, wo ganz andere Probleme vorherrschen. Solche, die im Vergleich wohl nichtig erscheinen. Der Murianer kommt nach Hause mit dem Wissen, sein Bestes gegeben zu haben, um Menschenleben zu retten.