Bloss keinen Rosenkohl
24.02.2023 WohlenDie Wohlerin Amalia Bosisio wird 100-jährig und feiert im Reusspark, wo ihr Sohn Urs Bosisio der Direktor ist
Während des Zweiten Weltkriegs war sie im Militär. Amalia Bosisio lebte dann 60 Jahre lang in Wohlen. Nun feiert sie ihren 100. Geburtstag – ...
Die Wohlerin Amalia Bosisio wird 100-jährig und feiert im Reusspark, wo ihr Sohn Urs Bosisio der Direktor ist
Während des Zweiten Weltkriegs war sie im Militär. Amalia Bosisio lebte dann 60 Jahre lang in Wohlen. Nun feiert sie ihren 100. Geburtstag – und dies im Reusspark in Niederwil. Fast gleichzeitig mit ihrem Einzug vor ein paar Monaten wurde ihr einziger Sohn Urs Bosisio dort Direktor. «Er ist mein grösster Wurf im Leben», sagt die beeindruckende Frau, die Rosenkohl hasst und Krimis liebt.
Stefan Sprenger
Ein Kuss. Eine Umarmung. «Bis bald, mein Lieber.» Amalia Bosisio verabschiedet in ihrem Reusspark-Zimmer ihren Sohn. Man sieht sofort, die Beziehung ist eng und liebevoll. «Meine Mutter war in ihrem Leben kaum je sauer. Ich mag mich nicht erinnern, dass sie einmal laut wurde», erzählt Urs Bosisio. Das ist wohl auch ihr Geheimrezept für ein glückliches Leben: immer positiv sein. Immer das Gute in den Vordergrund rücken. «Und feines Essen», sagt sie lachend.
Frauenhilfsdienst für 2.50 Franken
Geboren wurde sie am 23. Februar 1923. Aufgewachsen ist sie in Dietikon. Ledig hiess sie Schelbert. Ihre Vorfahren lebten im Muotathal. Als junge Frau erlebte sie den Zweiten Weltkrieg in den Jahren 1944 und 1945 mit. «Ich ging in den Aktivdienst, FHD hiess das. Frauenhilfsdienst.» In Graubünden war sie in der Brigade 12 als Sanitäterin im Einsatz. Der Sold: 2.50 Franken. «Es war sehr schön und sehr streng», meint sie zu dieser Erfahrung.
Wenig später lernte sie ihren Mann Karl kennen. «Beim Turnen», wie sie erwähnt. Sie heiraten, lebten in Oberglatt und Rhorbas. 1955 kommt Sohn Urs zur Welt. 1963 zügelte die Familie Bosisio nach Wohlen, weil der Vater bei der Firma Durisol in Villmergen als Betriebselektriker arbeitete (und auch bis zur Pensionierung blieb). Zuerst lebte die Familie an der Ringstrasse. Als der Vater 1995 stirbt, zügelt Amalia Bosisio in eine Wohnung an die alte Bahnhofstrasse – oberhalb des «Denner». Dort wohnte sie bis im vergangenen Sommer. Nach einem Sturz brauchte sie intensivere Betreuung. Mit 99 Jahren zügelte sie in den Reusspark. Nur wenige Monate zuvor wurde ihr Sohn Urs Bosisio dort Direktor. Er war zuvor schon im Vorstand des Reussparks und stellte sich – nach 12 Jahren als Gemeindeammann Hägglingens – dieser neuen Herausforderung.
Wie ist es so, wenn der Sohn gleichzeitig der Direktor des Reussparks ist? Amalia Bosisio lächelt – wie fast immer – und meint: «Ich habe eine tolle Aussicht. Das Essen ist hervorragend. Ich habe einen Jassfreund gefunden. Ab und zu trinke ich ein Bier – und auch das schmeckt super. Mir geht es hier sehr gut. Und Urs kommt mich oft besuchen. Was gibt es Schöneres?»
Schlaflos wegen Krimis
Bevorzugt wird sie als Mutter des Direktors nicht. Als Amalia Bosisio in den Reusspark kam, wohnte sie erst ein halbes Jahr in einem Zweierzimmer und kam auf die Warteliste für ein Einzelzimmer – genau wie alle anderen. An Weihnachten durfte sie dann ihr neues Zimmer beziehen. Und es passt ihr bestens. «Wohlen war sehr lange mein Zuhause. Die Vereine. Die Menschen. Ich liebte es dort. Aber jetzt ist der Reusspark mein Daheim.» Die Worte der Mutter tun Urs Bosisio gut. «Ich bin natürlich froh, dass es ihr hier gefällt. Wir tun unser Bestes für das Wohl jedes einzelnen Bewohners.»
Amalia Bosisio wurde gestern Donnerstag 100 Jahre alt. Sie wird gefragt, was das Wichtigste war in ihrem langen Leben. «Familie. Bewegung. Freude. Gutes Essen.» Sie überlegt und fügt an: «Ich liebe Krimis.» Aktuell liest sie das Buch «Bretonisches Leuchten: Kommissar Dupins sechster Fall». Manchmal, wenn ein Krimi besonders spannend ist, könne sie nicht schlafen und muss weiterlesen. Gibt es auch Dinge, die sie nicht gerne hat? Sofort antwortet sie: «Ich hasse Rosenkohl.» Wenn es im Reusspark «Röselichööhl» gibt, dann fragt sie jeweils ihre Tischnachbarin, ob sie das ungeliebte Gemüse will. «Oder ich verdecke es mit einer Serviette, bääh.» Sie lacht herzhaft.
Sie erzählt Geschichten von früher. Gerne war sie in der Badi in Wohlen. Und dies, obwohl sie nicht schwimmen kann. Sie liebte es, mit der Familie in den Urlaub zu gehen – vorzugsweise im Zelt auf dem Campingplatz. Sie schwärmt von ihrer Zeit beim Frauenturnverein in Wohlen. «Deshalb bin ich wohl noch so fit.» Die Entwicklung der Waschmaschine sei in den vergangenen 100 Jahren «enorm spannend» gewesen.
Bäckerei und Hutfabrik
Und sie beschreibt ihre berufliche Laufbahn. Als junge Frau arbeitete sie in einem Teppichgeschäft. Und hat auch nach jener Zeit professionell Teppiche geknüpft. In Wohlen arbeitete sie bei der Steinmann Hutfabrik an der Pilatusstrasse und in der Bäckerei Kuhn beim Schulhaus Halde (zirka in den 70er-Jahren). «Wir hatten so immer frisches Brot zu Hause.» Sie blickt ihren Sohn an, der lachend bejaht. «Wie gesagt: Gutes Essen ist wichtig im Leben», fügt Amalia Bosisio hinzu. Ist dies das Geheimrezept für ein langes und erfülltes Leben? Sie weiss es nicht. Sie meint, es liege bei ihr in den Genen. Ihre Schwester ist 98Jahre alt, auch ihr Bruder und ihre Eltern lebten über 90 Jahre.
Urs Bosisio sitzt während des Gesprächs neben seiner Mutter und hört ihren Geschichten zu – auch wenn er sie wohl nicht zum ersten Mal hört, geniesst er die Lebensfreude der Mutter sichtlich. «Sie ist eine unglaubliche Frau», meint er. «Sie hat immer gut auf mich geachtet und mich begleitet. Sie ist liebevoll und hatte immer Verständnis. Sie denkt immer positiv.»
«Ich musste immer an die Handballspiele»
Amalia Bosisio lauscht diesen Worten – und sie gefallen ihr. «Ich musste immer an die Handballspiele», erzählt sie wie aus dem Nichts. Vater Karl hat die Handball-Leidenschaft an Sohn Urs weitergegeben, der Spieler, Trainer und Präsident der Wohler Handballer wurde. «Handball war oft Thema Nummer 1», meint sie. Sohn Urs war auch Präsident des FC Hägglingen, 24 Jahre im Gemeinderat Hägglingen (davon 12 als Ammann), war erfolgreicher «Bänkler» und wirkte an vielen Projekten mit. Er war beispielsweise die treibende Kraft bei der Sanierung des Maiengrünturms in Hägglingen. Und jetzt ist er Direktor des Reussparks. Kurz gesagt: Ob sportlich, politisch oder beruflich, Urs Bosisio ist ein erfolgreicher Macher, der stets auf Teamgeist setzte und von allen Seiten geschätzt wird als sympathischer Mensch. Was sagt die 100-jährige Mama zu ihrem Junior? Mit einem lauten Lachen sagt sie: «Er arbeitet zu viel. Immer noch.» Ihr Blick verrät: Sie ist unglaublich stolz.
«Wissen Sie es?»
Auf die Frage, was sie sich zu ihrem 100. Geburtstag wünscht, antwortet sie: «Schönes Wetter.» Sie möchte gesund bleiben und noch ein paar Jahre auf dieser Erde sein. «Mir ist es wohl hier», meint die zweifache Urgrossmutter lachend. Kurz ist sie ruhig und schreckt dann auf. «Das glaubt kein Mensch, dass ich 100 Jahre alt werde.» Hat sie sich Gedanken gemacht, was nach dem Tod kommt? «Aus der Welt. Aus dem Sinn. Einmal muss jeder gehen. Was nach dem Tod kommt? Keine Ahnung. Wissen Sie es? Dann sagen Sie es mir bitte.» Wieder lacht sie. Und fragt dann plötzlich, wie viel Uhr es ist. Halb 12. Bald Mittagszeit. «Ich muss los. Gutes Essen ist wichtig», meint sie. «Hoffentlich gibt es keinen Rosenkohl.»