Barfuss über die Alpen
08.08.2025 Region OberfreiamtAls Teil ihrer Maturarbeit wanderten Linus Kottmann und Dominic Schulze von Chur bis nach Bellinzona
Zwölf Tage. 6000 Meter nach oben und auch wieder nach unten. 124 Kilometer Distanz. Und das alles ganz ohne Wanderschuhe. Linus Kottmann aus Bünzen und Dominic ...
Als Teil ihrer Maturarbeit wanderten Linus Kottmann und Dominic Schulze von Chur bis nach Bellinzona
Zwölf Tage. 6000 Meter nach oben und auch wieder nach unten. 124 Kilometer Distanz. Und das alles ganz ohne Wanderschuhe. Linus Kottmann aus Bünzen und Dominic Schulze aus Boswil überquerten die Alpen barfuss. Bei beiden ist die Wanderung Teil ihrer Maturarbeit – Schulze dreht einen Film dazu, Kottmann gestaltet einen Bildband.
Annemarie Keusch
Eigentlich stellten sie sich diese Frage jeden Tag. Heute lachen Linus Kottmann und Dominic Schulze darüber. «Ja, wir fragten uns oft, weshalb wir uns das antun.» Etwa dann, als der Wanderweg durch Kastanienwälder führte. «Da nahm ich die Pinzette gefühlt alle fünf Minuten zur Hand, um Stacheln aus den Füssen zu ziehen», sagt Dominic Schulze. Den letzten Stachel zog er erst diese Woche raus. «Plötzlich piekste etwas.» Über eine Woche, nachdem die beiden von ihrem Abenteuer in den Alpen zurückgekehrt waren. Elf Tage waren sie in den Bergen unterwegs. Von Chur bis fast nach Bellinzona führte ihr Route. Das Ziel: die Alpen barfuss zu überqueren.
Kottmann und Schulze starten nächste Woche beide ins letzte Jahr an der Kantonsschule Wohlen. Die ursprüngliche Idee des gemeinsamen Projekts kam von Dominic Schulze. Im Rahmen des Projektunterrichts verfasste er eine analytische Arbeit rund um die Vorbereitung auf eine Barfuss-Alpenquerung. Wie ich darauf kam? «Ich brauche einfach immer ein Projekt», sagt er und lacht. Schulze las Bücher über das Barfusslaufen. Er eignete sich Wissen über den Aufbau der Haut an. Und er erfuhr, dass die Bewegungsabläufe beim Barfusswandern anders sind. «In Schuhen setzt man zuerst die Ferse auf. Das sei für die Kniegelenke und die Wirbelsäule höchst ungesund, weil sie den ganzen Schlag abbekommen. Aber die Schuhe gleichen das aus.» Ohne Schuhe tritt man zuerst mit dem Vorfuss auf. Ballengang nenne sich das. «Man tastet sich quasi vor und gibt erst beim Abrollen das gesamte Gewicht auf die Füsse», weiss Linus Kottmann.
Begeisterung und Kopfschütteln
Dass sich Dominic Schulze im Rahmen des Projektunterrichts vertieft mit dem Barfusslaufen befasste, davon wusste Linus Kottmann. Auch, dass Schulze daraus eine Maturarbeit machen und die Theorie in die Praxis umsetzen will. «Er fragte mich, ob ich ihn begleite.» Kottmann sagte zu und machte gleich sein eigenes Projekt daraus. «Wenn schon, denn schon.» Dass sie nun dieses Abenteuer zu zweit erlebt haben, sei einmalig. «Allein wäre es wohl viel schwieriger gewesen», gestehen sie. Sich gegenseitig motivieren, aber auch mal bremsen. «Wir ergänzten uns super. Ich bin eher der, der das Ziel im Auge hat und es unbedingt erreichen will. Dominic ist entspannter unterwegs, will auch mal die Aussicht geniessen. Die Kombination führte zum Erfolg.»
Im Januar haben die beiden mittlerweile 19-Jährigen mit dem Training angefangen. «Bei Temperaturen, die knapp im positiven Bereich waren.» Dass Leute, die sie sehen, auch hie und da den Kopf schütteln, daran haben sie sich längst gewöhnt. Im Training, aber auch auf der Wanderung in den Alpen. «In der Schweiz reagierten die Menschen verhaltener, in Italien teils fast schon euphorisch. Als wir barfuss durch ein Dörflein wanderten, wollte uns ein älterer Herr gar sein Schuhe mitgeben», erzählt Linus Kottmann.
Zwischen Hitze und Regen
Mit einer Distanz von einem Kilometer auf Schotter startete das Training Anfang Jahr. «Dann schmerzten die Füsse bereits stark», erinnert sich Dominic Schulze. Aber mit dem Training wurde es immer besser. Mehr und mehr simulierten die beiden die Realsituation ihres Abenteuers. Sie wanderten mit Gepäck, trainierten auch steile Passagen in den Bergen und gingen über weitere Distanzen. Und sie lernten Gefahren für ihre Füsse kennen. «Der heisse Asphalt führte zu Brandblasen», sagt Linus Kottmann. Auch auf ihrer elftägigen Alpenquerung waren sie auf Teerstrassen froh um die weissen Streifen am Fahrbandrand. «Die werden weniger heiss.»
Aber die Hitze war längst nicht das einzige, wogegen sich die beiden jungen Männer schützen mussten. Gerade wettertechnisch erlebten sie quasi alles. Regenschutz und Poncho waren oft im Einsatz, die Sonnencreme ebenfalls. Einmal mussten sie gar einen ungeplanten Pausentag einlegen – nicht weil ihre Kondition oder die geschundenen Füsse dies verlangten, sondern weil der Wetterbericht Gewitter prophezeite. «Das wollten wir nicht riskieren. Erst recht nicht barfuss», sagt Dominic Schulze. Und zumal dies just während der drei Tage passierte, in denen sie keinen Handy-Empfang hatten.
Angehörige via App dabei
Die Route legten sich die beiden natürlich vorher zurecht, die Etappenziele ebenfalls. Dass die Alpenquerung im Bündnerland erfolgte, hatte entsprechend pragmatische Gründe. «Im Wallis hätte die Höhe wohl Schnee mit sich gebracht. Das ist mit nackten Füssen kaum möglich», weiss Dominic Schulze. Zudem sei die Distanz zwischen Chur und Bellinzona die geringste aller Routen, die als Alpenquerungen gelten.
Durchschnittlich 13 Kilometer legten die beiden pro Tag zurück. «Das tönt nicht nach viel», gestehen sie. Barfuss sei man aber automatisch langsamer unterwegs. «Vor allem talwärts, wenn das ganze Gewicht von Körper und Gepäck auf die Fussballen kommt. Da legt man schon viel Wert darauf, den Fuss am richtigen Ort abzustellen», sagt Linus Kottmann. Für Distanzen brauchten sie teilweise mehr als das Doppelte der angegebenen Zeit. Dies aber auch, weil die beiden ihr Abenteuer umfangreich dokumentierten. Dominic Schulze wird daraus für seine Maturarbeit ein Video machen, das in ein paar Wochen via Youtube publiziert wird. Entsprechend schleppte er eine Drohne und mehrere Powerbanks mit. Linus Kottmann produziert daraus einen Bildband und hatte eine extra dafür neu gekaufte Kamera dabei. Zudem dokumentierten sie ihre Reise auf einer App, damit Familie und Freunde quasi hautnah dabei sein konnten.
Pasta-Überraschung im Not-Biwak
Zusätzliches Gewicht also, das mit der Zeit zur Belastung wurde. «Wegen des Rucksacks hatte ich einen Ausschlag an den Schultern», erzählt Dominic Schulze. Dabei achteten die beiden vor der Wanderung penibel darauf, eben möglichst wenig Gepäck mitzuschleppen. Essen kauften sie sich vorzu in den kleinen Dörfern, die sie passierten. Linus Kottmann trug ein Ein-Mann-Zelt mit sich, Dominic Schulze gar nur einen Biwaküberzug. Sie schliefen auf Campingplätzen, in Notbiwaks, in einer SAC-Hütte und stellten hie und da ihr Zelt auch wild auf. Und in Sachen Unterkunft erlebten sie auch eine äusserst angenehme Überraschung. Es regnete stark beim Aufstieg zum Notbiwak. «Wir redeten noch davon, wie schön es wäre, jetzt einen Teller Pasta zu essen», erinnert sich Dominic Schulze. Dass es das in einem Notbiwak gibt, ist aber alles andere als Usus. «Als wir ankamen, fanden wir in einem Schrank Teigwaren und Tomatensauce, einen Holzofen zum Anfeuern und sogar eine Dusche. Ein riesiges Geschenk in diesem Moment.»
Zwölf Tage barfuss wandern. Da drängt sich die Frage nach den Füssen förmlich auf. «Nach drei Tagen waren wir derart im Rhythmus, dass es überhaupt keine Probleme gab», sagt Dominic Schulze. Schürfungen und Nadeln, Dornen oder Splitter, die entfernt werden mussten – das gehöre dazu. Die beiden lachen. Überhaupt sind sie nur wenige Tage nach der Rückkehr ins Freiamt schon bereit, auch augenzwinkernd auf ihr Abenteuer zurückzuschauen. Etwa was Gepäck betrifft, das sie unnötig mitschleppten. «Drei Paar Socken», sagt Linus Kottmann und fasst sich an den Kopf. Abends auf Campingplätzen oder nachts im Schlafsack trugen sie schon auch hie und da Socken. «Aber drei Paar, das hätte es nicht gebraucht.»
Und Dominic Schulze meinte, gar ein Drittel der Kleidung unnötigerweise mitgeschleppt zu haben. Das aber aus gutem Grund. Am siebten Tag lief die Sonnencreme im Gepäck aus, fast alle Kleidung war betroffen. «Von da an trug ich sowieso nur noch das, was ich an diesem Tag anhatte.»
Kaum mehr in geschlossenen Schuhen
Genau solche Momente sind es, die in Erinnerung bleiben. Bis zu elf Stunden sind sie täglich barfuss gewandert. 6000 Höhenmeter nach oben und nach unten, 124 Kilometer Distanz. «Eine Grenzerfahrung, aber genau das wollten wir erleben», sagen die beiden. Zwölf Tage zu Fuss in den Alpen. Nun sind sie zurück, haben wieder mehr Zeit für ihre Hobbys. Linus Kottmann verbringt diese vor allem im Turnverein Muri, turnt selbst und trainiert den Nachwuchs. Dominic Schulze ist gerne in der Natur unterwegs, schreibt Gedichte und Poetry Slams, liest, ist Teil der Feuerwehr und leitet zwei Bibelkurse. Und natürlich müssen die beiden auch nach dem grossen, praktischen Teil, ihre Maturarbeit finalisieren – in einer gemeinsamen begleiteten schriftlichen Arbeit und mit ihren beiden Produkten: dem Film und dem Bildband.
Übrigens sind beide weiterhin oft barfuss unterwegs. Oder in offenen Schuhen. «Richtige Schuhe anzuziehen, das macht gerade irgendwie gar keinen Sinn», sagen sie und lachen.