Aufruhr am Künstlerhaus
03.02.2023 Boswil, Region OberfreiamtAndreas Flecks Abgang löst viele Reaktionen aus
Über 200 Seiten umfasst die PDF-Datei, in der Andreas Fleck die Reaktionen auf seinen Abgang beim Künstlerhaus Boswil sammelte. «Es sind zig Liebesbriefe.» Reaktionen, die ihn überwältigen, die ihn ...
Andreas Flecks Abgang löst viele Reaktionen aus
Über 200 Seiten umfasst die PDF-Datei, in der Andreas Fleck die Reaktionen auf seinen Abgang beim Künstlerhaus Boswil sammelte. «Es sind zig Liebesbriefe.» Reaktionen, die ihn überwältigen, die ihn aber auch beschäftigen. «Dass der Abschied vom Künstlerhaus unter diesen Umständen für mich der richtige Schritt war, darin besteht kein Zweifel.» Dennoch fühle er sich auch schuldig gegenüber dem Publikum, dass er nicht weiter dessen Erwartungen erfüllen kann. «Es ging nicht mehr.»
Bedauern, aber Optimismus
Geschäftsführer Claudio Rossetti und Stiftungsratspräsident Stefan Hegi bedauern Flecks Abgang, blicken aber nach vorn. --ake
Abschied von der grossen Liebe
Andreas Fleck verlässt das Künstlerhaus Boswil – sein Abgang wirbelt ganz viel Staub auf
Vor 24 Jahren kam er als Cellist ans Künstlerhaus. Nun geht er als künstlerischer Leiter und Vater des «Boswiler Sommers». Leicht fällt Andreas Fleck der Abschied nicht. «Ich fühle mich wie andere, die die grosse Liebe verloren haben.» Sein Weggang löst rund um den kulturellen Leuchtturm ganz viel aus.
Annemarie Keusch
Immer wieder blickt Andreas Fleck auf seine Smartwatch. Nicht, weil er die Zeit wissen will. Die Uhr zeigt ihm immer wieder an, dass jemand anruft, dass eine Nachricht einging, dass eine Mail im Posteingang landete. «Es ist unglaublich, was in den letzten Tagen passierte», sagt er. Von Musikerinnen und Musikern, von treuem Publikum. «Viele von ihnen kenne ich nicht einmal persönlich.» Der Grundtenor sei der gleiche: Unverständnis, Traurigkeit, Ungläubigkeit. In einer PDF-Datei hat er die Reaktionen, die «Liebesbriefe», die per Mail zu ihm kamen, zusammengefasst. Über 200 Seiten umfasse diese mittlerweile. «Viele sind verwundert, können nicht nachvollziehen, wie das passieren konnte.»
Und auch Andreas Fleck fällt es immer wieder schwer, die richtigen Worte zu finden. Er sitzt da, schüttelt den Kopf, sagt mehrmals den Satz: «Es ging einfach nicht mehr.» Statt am Künstlerhaus in Boswil intensiv am Boswiler Sommer zu arbeiten, reist er direkt nach dem Gespräch ins Engadin. «Ich muss Abstand gewinnen, auf meine Gesundheit achten», sagt er. Dass ihn die Trennung vom Künstlerhaus mitnimmt, das habe auch sein Arzt feststellen müssen. «Es geht mir so, wie es wohl allen geht, die Trennungsschmerz haben.»
Über tausend Musiker kennengelernt
23 Jahre sind vergangen, seit er als Cellist für ein Konzert eingeladen wurde. «Es hat sofort gefunkt zwischen mir und diesem Ort», sagt Fleck. Seit Jahren ist er künstlerischer Leiter, organisiert den Boswiler Sommer und die Meisterkonzerte. Mit über tausend Musikerinnen und Musikern habe er in dieser Zeit zu tun gehabt. «An dieser Aufgabe bin ich enorm gewachsen», sagt er. 32-jährig sei er damals gewesen. «Ohne das Künstlerhaus Boswil stünde ich nicht da, wo ich jetzt bin», sagt er. Unzählige schöne Momente haben sich in seinem Gedächtnis angesammelt und jede Menge Lebenserfahrung. «Vom Publikum zu hören, dass sie hier die schönsten Konzerte ihres Lebens gehört haben, das geht unter die Haut.» Es sind Momente, die in den letzten Wochen und Monaten in den Hintergrund rückten. «Aber es sind Momente, die mir niemand nehmen kann. Ich hatte hier viele Jahre ganz viel Glück, lebte quasi im künstlerischen Paradies. Dafür bin ich sehr dankbar.»
Der Entscheid kam von ihm aus. «Diesen habe ich mit dem Kopf gefällt, mit dem Herzen wäre dies nicht möglich gewesen.» Fleck spricht von schwierigen Monaten, gar Jahren. Davon, dass die Ressourcen fehlen, das Zusammenspiel zwischen künstlerischer Leitung und Geschäftsführung nicht funktioniere. Davon, dass die Rahmenbedingungen auch seitens des Stiftungsrates für die Angestellten nicht die seien, die für die anspruchsvollen Aufgaben erforderlich sind.
Innerer Abschied an Silvester
«Ich hätte mehr fachliche und menschliche Kompetenzen im Marketing gebraucht, bekam diese aber nicht», nennt er ein konkretes Beispiel. Gegen Ende des letzten Jahres fiel der Entscheid, das Künstlerhaus zu verlassen. «Ich habe gespürt, dass ich nicht mehr ich selbst sein kann.» Er sei laufend hinterhergerannt, dieses noch versucht zu machen, jenes auch noch. «Ich bin hier eingesprungen, habe da Arbeiten erledigt, die eigentlich nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fallen. Über eine kurze Zeit mag das gehen, über eine längere nicht.» Anfang Oktober habe er angekündigt, externe Hilfe zu brauchen, damit der Boswiler Sommer gestemmt werden könne. «Ich bekam diese nicht zugesprochen. Also musste ich konsequent sein. So konnte ich die Verantwortung nicht übernehmen, dass die zu Recht hohe Erwartungshaltung des Publikums erfüllt werden kann.»
An Silvester trat er mit «Chaarts» in der Alten Kirche auf, die berstend voll war. «Für mich war es der innerliche Abschied.» Einen Boswiler Sommer gibt es 2023 nicht, auch wenn es bis zuletzt das Interesse aller Beteiligten gewesen sei, diesen doch noch auf die Beine zu stellen. Zumal ab Februar vier neue Mitarbeitende eingestellt werden, die Fleck nicht kennt, unter anderem eine Kommunikationsassistenz. «Im Fussball geht man auch nicht mit einer Mannschaft an ein wichtiges Turnier, die vorher nie miteinander trainiert hat», vergleicht Fleck.
Schuldgefühle gegenüber dem Publikum
Er fühle sich schuldig. Auch diesen Satz sagt Fleck. Dem Publikum gegenüber, dass er nicht weiter liefern könne. «Dass nun so viele Reaktionen auf meinen Abschied kommen, macht es nicht unbedingt besser.» Und es gibt etwas, das er sich vorwirft: «Seitens der Projektleiter hätten wir uns früher mit zeitgemässeren Führungsstrukturen beschäftigen müssen und etwa eine Co-Leitung anbieten sollen. Die Anforderungen heute sind enorm gewachsen. Aber vor zwei Jahren konnte ich mir schlicht noch nicht vorstellen, das Cello dafür zur Seite zu stellen, denn die Geschäftsführung am Künstlerhaus bedarf einer maximalen Präsenz, besonders am Wochenende.»
Nach 23 Jahren ist die Ära Fleck am Künstlerhaus Boswil beendet. Davon, dass es der richtige Entscheid war, ist er überzeugt. «Natürlich wünsche ich der Institution nur das Beste und hoffe, dass diese Trennung genutzt wird, um ganz vieles zu hinterfragen und vielleicht neu aufzustellen.» Und wie sieht Flecks Zukunft aus? «Zuerst versuche ich, die Leere auszuhalten», sagt er. Zudem werde er sich auf das Ensemble «Chaarts» konzentrieren. «Dieses Projekt ist auch in Boswil entstanden und ich nehme es sehr gerne mit.»
Während des Gesprächs musste Andreas Fleck sein Mobiltelefon zum Aufladen mit der Steckdose verbinden. Sein Akku reicht nicht, um die vielen Nachrichten zu lesen und die Telefonate zu führen. Nach dem Gespräch trennen sich die Wege. Fleck geht zum Bahnhof, bleibt aber nach wenigen Metern stehen, zückt sein Handy aus der Hosentasche und hält es ans Ohr – das nächste Telefonat.
NACHGEFRAGT
«Impulse gesetzt»
Seit rund eineinhalb Jahren ist Stefan Hegi Präsident des Stiftungsrates des Künstlerhauses Boswil. Auch an den Stiftungsrat richtet Andreas Fleck Vorwürfe. Er sagt, dass von diesem zu wenig Unterstützung kam. Dies verneint Hegi. Trotzdem bedauert er den Abgang Flecks.
Was sagen Sie zu Andreas Flecks Weggang von Boswil?
Stefan Hegi: Wir bedauern, dass er Ende letzten Jahres gekündigt hat. Es ist ein Entscheid, den es zu akzeptieren gilt.
Inwiefern hat er in den letzten über 20 Jahren das musikalische Geschehen am Künstlerhaus mitgeprägt?
Andreas Fleck hat viele wertvolle Impulse gesetzt. Der Boswiler Sommer war bestimmt ein wichtiger Lichtstrahl unseres Leuchtturms, der weit über die Region hinausstrahlt.
Wie würden Sie ihn als künstlerischen Leiter beschreiben?
Wer einmal an einem Boswiler Sommer war, der weiss um die Kraft, die er auszustrahlen vermochte.
Andreas Fleck sagt, man habe ihm nicht genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt, damit er den Boswiler Sommer 2023 hätte auf die Beine stellen können. Wie ist Ihre Sicht dazu?
Die nötigen Ressourcen wurden im letzten Jahr gemeinsam mit der künstlerischen Leitung budgetiert und wie in der Vergangenheit zur Verfügung gestellt.
Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht ein gutes Miteinander zwischen Geschäftsführung und künstlerischer Leitung?
Am Künstlerhaus arbeiten mehrere künstlerische Leiterinnen und Leiter. Im Stiftungsrat arbeiten wir gut zusammen. Für uns ist eine gute und konstruktive Zusammenarbeit zwischen allen Bereichen und Stufen von Bedeutung – ganz unabhängig von den Persönlichkeiten.
Welche Auswirkungen hat der Weggang Flecks auf die Zukunft des Künstlerhauses Boswil?
Wir sind zuversichtlich, dass das Künstlerhaus Boswil auch in Zukunft als musikalischer Leuchtturm zu bestehen vermag. --ake