Auf dem Schlitten durchs Dorf
31.07.2025 Region UnterfreiamtSommerserie «Weisch no» mit Emil Wirth, Alt-Bäckermeister in Niederwil
Wegziehen war für Emil Wirth nie ein Thema. Es wäre auch schwierig gewesen, denn ein Familienunternehmen wie seine Bäckerei lässt sich nicht mal eben zügeln. ...
Sommerserie «Weisch no» mit Emil Wirth, Alt-Bäckermeister in Niederwil
Wegziehen war für Emil Wirth nie ein Thema. Es wäre auch schwierig gewesen, denn ein Familienunternehmen wie seine Bäckerei lässt sich nicht mal eben zügeln. Letztlich hat es ihm in Niederwil immer gefallen. Und tut es auch heute noch. Mit kleinen Abstrichen.
Chregi Hansen
Er hat sich auf das Treffen vorbereitet. Im Vorfeld Erinnerungen notiert. Das Fotoalbum bereitgelegt. Anfangs hält sich Emil Wirth noch an seine Notizen. Aber immer häufiger schweift er ab. Kommt dabei ins Erzählen. Präsentiert Anekdoten aus seinem Leben. Und davon gibt es einige im Leben von Emil Wirth, dem früheren Bäckermeister in Niederwil.
Die Bäckerei Wirth an der Hauptstrasse 18 ist mit 121 Jahren das älteste Familienunternehmen in Niederwil, wie er stolz erklärt. Geführt wird es mittlerweile in der vierten Generation von Rainer Wirth, dem Sohn von Emil und Irma. Ein moderner Bau mit einem Café und Sitzgelegenheiten im Freien. «Das war früher ganz anders. Da führte die Strasse direkt an der Bäckerei vorbei. Die Tür führte anfangs hinaus auf die Strasse, später wurde der Eingang an die Seite verlegt. Würde das Gebäude noch stehen, wäre es jetzt mitten auf der Strasse», erinnert sich Emil Wirth. Zur Bäckerei gehörte damals auch noch ein kleiner Bauernhof, und im benachbarten Schopf quartierte sich regelmässig das Militär ein und betrieb hier die Küche. «Die Mahlzeitenreste durften sich dann die ärmeren Niederwiler abholen», so Wirth.
Erinnerungen an das erste Niederwiler Jugendfest
Der Bäckermeister hat Jahrgang 1944. In seiner Kindheit war Niederwil noch ein kleines Bauerndorf. «Es gab viele kleine Höfe. Einige der Bauern nutzten noch Kühe als Zugtiere.» Autos gab es hingegen nur wenige, die Strassen waren noch nicht asphaltiert, nicht mal die Kantonsstrasse nach Wohlen. Dafür konnten die Kinder auf der Babeligasse (der heutigen Rütistrasse) lange Schlittenfahrten unternehmen. Teilweise sogar am Restaurant Schwyzerhus vorbei bis in den Mühlebachweg. Ein ganz besonderes Erlebnis war für Wirth das erste Jugendfest im Jahr 1953. «Mein Vater war zu dieser Zeit Schulpflegepräsident und fand, es brauche ein solches Fest für die Kinder und Jugend. Unter anderem gab es eine Imitation der Spanisch-Brötli-Bahn – ein Traktor mit mehreren Wagen angehängt.» Man spürt den Stolz auf den Vater, der dieses Fest möglich machte.
Wenn Emil Wirth über diese Zeiten erzählt, kommt er ins Schwärmen. Niederwil zählte in seiner Kindheit knapp 1000 Einwohner. Aber es gab drei Restaurants (plus eines in Nesselnbach), zwei Lebensmittelläden und eine Milchannahmestelle in jedem Ortsteil. Und zwei Bäckereien. «Neben uns gab es noch die Bäckerei Gauch im Dorf, gleich vis-à-vis des Restaurants Kreuz. Das war schon eine Konkurrenz. Darum bedienten wir zusätzlich Kunden in Wohlen», berichtet der 81-Jährige. Trotz einer Vielzahl an Bäckereien im Nachbarort gab es etliche Wohler, welche die Produkte der Familie Wirth lieber mochten. Anfangs ging es mit Ross und Wagen auf Tour, später mit einem Kastenwagen. «Auf dem Heimweg holten wir noch Speditionsware am Bahnhof ab. Das gab ebenfalls einen kleinen Zusatzverdienst.» Schon als Kind ist Emil Wirth auf den Touren mit dabei. Heute geht die Bäckerei auf Pausentour nach Wohlen.
Postauto fuhr dreimal am Tag
Die Zeiten waren aber nicht einfach. In Niederwil gab es noch eine Mühle, die Bauern mussten einen Anteil des vermahlenen Korns für ihren Eigenbedarf wieder beziehen. «Viele haben dann selbst gebacken, das war natürlich nicht gut für uns. Andere haben das Mehl uns gebracht und mussten beim Brotkauf nur den Lohn fürs Backen bezahlen», berichtet Wirth. Viele Frauen erledigten noch in Heimarbeit Aufträge für die Strohindustrie. Es gab zwar schon eine Busverbindung, aber das Postauto fuhr nur dreimal am Tag. «Dass wir ein eigenes Fahrzeug hatten, war schon ein Vorteil. Nicht nur für die Transporte. Manchmal unternahm mein Vater auch Ausflüge mit uns, etwa nach Einsiedeln.» Ferien hingegen lagen nicht drin, eine Schliessung der Bäckerei war wegen der vielen Lieferaufträge nicht möglich. Die Schweiz lernte der junge Emil vor allem durch Schulreisen kennen.
Kinder mussten jeden Mittwoch in die Messe
Niederwil war zu dieser Zeit noch streng katholisch. «Als Kind mussten wir am Mittwochmorgen jeweils noch in den Gottesdienst. Und Pfarrer Wicki hat genau geschaut, wer da war und wer nicht», erinnert sich Wirth. Dafür hatte ein katholisches Dorf den Vorteil, dass die Fasnacht intensiv gefeiert wurde. Wirth war als junger Mann an den grossen Bällen im «Engel» und «Kreuz» dabei. «Wir waren früher viel an der Fasnacht», erklärt er. Seine Frau stammt aus Schlieren und kam der Liebe wegen ins Freiamt, die Fasnacht war für sie neu. Irma Wirth half tatkräftig im Laden mit.
Im jungen Alter von 23 Jahren hat Emil Wirth seinen Vater verloren. Darum musste er früher als geplant das Geschäft übernehmen. Erst als Chef der Backstube, während seine Mutter den Laden führte, unterstützt von Emils Schwestern Astrid, Helene und Therese. Später hatte er die gesamte Verantwortung. Zuvor war er mehrmals im Sommer in einer Stadt angestellt, erst in Biel, später in Bern. «Das war schon ein grosser Unterschied zum beschaulichen Niederwil. Aber es hat mir durchaus gefallen in der Stadt. Aber mir ist es wohler auf dem Land», sagt er. Vor 12 Jahren haben Emil und Irma Wirth die Bäckerei Sohn Rainer und seiner Frau Manuela übergeben und sind in eine Eigentumswohnung gezogen. «Uns gefällt es hier. Es ist ruhig, schön gelegen und wir sind schnell im Dorf», sagen sie.
An sich findet Emil Wirth Niederwil noch immer ein wunderbares Dorf. Auch wenn er den ländlichen Charakter etwas vermisst. «Es gibt viele Neuzuzüger, aber nur wenig Arbeitsplätze. Da besteht die Gefahr, dass man zum Schlafdorf wird», sagt er. Schade sei auch, dass es keinen Arzt mehr gebe. Umgekehrt habe man jetzt Angebote, die es früher nicht gab: den Mahlzeitendienst, die Spitex, den Mittagstisch für Senioren oder den besseren öffentlichen Verkehr. Auch das Vereinsangebot sei gross, so Wirth. Negativ findet er das grosse Verkehrsaufkommen. «Und wenn sie wirklich wie geplant die Bushaltestelle auf die Strasse verlegen, wird es noch schlimmer», befürchtet er. Er hofft, dass der Kanton da nochmals über die Bücher geht.
Hände weg von der Politik
Emil und Irma Wirth sind immer noch interessiert am Geschehen im Dorf. «Früher hat man im Laden ganz viel erfahren.» Aber auch heute sind sie immer auf dem Laufenden. So besuchten sie die Infoveranstaltung zum neuen Gemeindehaus. «Ich finde es ein schönes Projekt», so das Fazit von Emil Wirth. Selbst wollte er sich politisch nie im Dorf engagieren. Als Unternehmer sei das nicht ungefährlich, man habe schnell einen Kunden vergrault.
Der Bäckermeister hat schöne Erinnerungen an die alten Tage. Mit strahlenden Augen erzählt er, wie die beiden Wohler Originale, der Burkart Walter und der «Gandhi», bei den Eltern zu Besuch waren und ihre Lieder geträllert haben. «Wir mussten dann zwar ins Bett, aber die beiden waren im ganzen Haus zu hören.» Mit dem Künstler Burkart verband ihn später eine Freundschaft, zu Hause hat er einen seiner Güggel hängen. Den Umbau der alten Bäckerei plante damals der Wohler Architekt Cäsar Weber, der Vater von Komiker Peach Weber. Überhaupt, an Wohlen hat er gute Erinnerungen. Einst war ihm angeboten worden, die Bäckerei City zu übernehmen. Daraus wurde zwar nichts, dafür konnte er dann das Café City beliefern. Lang ist es her. Das «City» gibt es nicht mehr. Und Emil Wirth macht keine Auslieferungen mehr. «Heute geniessen wir die freie Zeit und die Möglichkeit, mal länger Ferien zu machen», sagt er. Älter zu werden hat eben auch Vorteile.