Auch wenn es unmöglich erscheint
10.03.2023 MuriHeinz Loher legte in sechseinhalb Tagen 430Kilometer durch den englischen Winter zurück
160 sind gestartet, 80 kamen ans Ziel. Schon allein diese Tatsache zeigt, wie hart das «Montane Spine Race» ist. 430 Kilometer durch Sumpf, Schnee und Kälte. Es ist ...
Heinz Loher legte in sechseinhalb Tagen 430Kilometer durch den englischen Winter zurück
160 sind gestartet, 80 kamen ans Ziel. Schon allein diese Tatsache zeigt, wie hart das «Montane Spine Race» ist. 430 Kilometer durch Sumpf, Schnee und Kälte. Es ist ein Rennen, das Heinz Loher schon immer faszinierte. Nun schaffte er es ins Ziel. Was bleibt, sind Hunderte Bilder im Kopf – primär schöne.
Annemarie Keusch
Nichts. Einfach nichts. Die letzten 40 Kilometer lang. Kein Dorf, kein Restaurant. «Um Essen kochen zu können, schmolzen wir über dem Kocher Schnee», erzählt Heinz Loher. Das Wetter sei genial gewesen an diesem letzten Tag. «Es lief quasi von alleine.» Und dann ist plötzlich das Ziel in Sicht. Dass es erst geschafft ist, wenn die Ziellinie überschritten ist, das ist Loher in jeder Sekunde bewusst. Später wird er Geschichten hören von Läufern, die eineinhalb Kilometer vor dem Ziel begannen in die falsche Richtung zu laufen. «Derart im Delirium waren sie.» Oder von solchen, die nur wenige Kilometer vor dem Ziel aus dem Rennen genommen werden mussten, weil sie derart schwach waren. «Man darf den Respekt vor der Strecke nie verlieren.»
Jetzt sagt Heinz Loher diesen Satz locker. Jetzt, einige Wochen nachdem er die Ziellinie des Winterultrarennens überschritt. Überhaupt, dass er vor Kurzem eines der härtesten Rennen überhaupt als Finisher beendete, das wird aus seinen Erzählungen nicht deutlich. «Um das zu schaffen, muss man kein Supersportler sein», sagt er beispielsweise. Loher rechnet. 430 Kilometer in maximal sieben Tagen. «Das sind 2,55 Kilometer pro Stunde. Schneckentempo.» Dass man aber jede Stunde diese zweieinhalb Kilometer abspulen muss, das sagt er erst im nächsten Satz. Zum Vergleich: der schnellste Absolvent, ein Profi, absolvierte die Strecke mit einem Tempo von rund fünf Kilometern pro Stunde.
Ende März gehts rund um den Zürichsee
Langstreckenläufe sind eine von Heinz Lohers grossen Leidenschaften. 50 Ultraläufe hat er schon absolviert. «Es fasziniert mich, Grenzen zu verschieben», sagt er. Den Mut aufzubringen, keine Angst vor dem Scheitern zu haben. Ins Unbekannte, Unplanbare eintauchen. Ein Teil der Landschaft werden. Und doch war vor Jahren seine Reaktion darauf, dass ein Freund von ihm am 170 Kilometer langen Rennen rund um den Mont Blanc teilnahm, genau gleich wie jene vieler Leute auf seine Teilnahme am Winterultrarennen: «Du spinnst im höchsten Grad.» Gemacht hat er es trotzdem, immer wieder. Immer länger, immer mehr Höhenmeter und jetzt bei immer kälteren Temperaturen. Ist es eine Sucht? Loher verneint. «Es muss nicht immer noch extremer sein», sagt er. Ende März laufe er rund um den Zürichsee. «Nur hundert Kilometer.»
Neues sehen, neue Landschaften erleben, neue Leute kennenlernen. Das scheint für den bald 57-Jährigen eine genauso grosse Motivation zu sein wie die sportliche Grenzerfahrung. Er spricht von Sonnenaufgängen, die ihn zum Staunen gebracht haben, auch wenn ihm dabei eine kalte Brise um die Ohren pfiff. Er erzählt von nie enden wollenden Ebenen. Trotz aller sportlicher Anstrengung – Loher hat das Auge für diese Schönheiten während des Rennens nicht verloren.
Schwerere Schuhe und wasserdichte Socken
Fasziniert hat ihn das «Montane Spine Race» schon länger. Fünf Jahre sind vergangen, seit er es im Sommer absolvierte. Online verfolgte er das Winterrennen jeweils mit, las Erfahrungsberichte. Und er meldete sich vor drei Jahren an. «Ich wusste, dass die Wartezeit lang ist, darum habe ich mich wohl getraut», sagt er. Das gleiche tat Anja, eine Deutsche, die er später an einem Ultrarennen kennenlernte. Zusammen meisterten sie diese grosse Herausforderung. Die Distanz, die Posten, wo man ausruhen und duschen konnte. Das alles kannte Loher. Und trotzdem, Unbekannte gab es einige. Die Dunkelheit ist eine. Höchstens acht Stunden ist es zu dieser Jahreszeit hell. Darauf habe er sich eingestellt.
Das Wetter ist eine andere. Heinz Loher nennt es eine Materialschlacht. Mit seinen normalen Laufschuhen – seit zehn Jahren schwört er auf die gleiche Marke – mit normalen Socken, das ging nicht. Es mussten schwerere, stabilere mit mehr Profil sein, um im Schnee nicht auszurutschen. Und es mussten wasserdichte Socken sein, um nach der Durchquerung von Sumpfgebieten oder Schneefeldern weniger nasse Füsse zu haben und nicht noch mehr zu frieren, als man es sonst schon tut. «Wobei, wirklich gefroren habe ich selten. Höchstens mal an den Händen. Das Laufen gibt warm.» Nur, spontan Pause machen, wie es viele auf Wanderungen tun, das ist nicht möglich. «Ohne einen warmen Unterschlupf würde es schnell gefährlich.» Einfach immer weiterlaufen, das war die Devise.
Unregelmässiger Schlaf
Das Zeitgefühl sei schnell weg gewesen. Gleiches gilt für den Schlafrhythmus. Mal waren es fünf Minuten sitzend auf einer Pub-Bank, mal eine Minute mit dem Oberkörper an die «Hadrianswall» angelehnt. «Den Schlafsack ausgepackt habe ich nur dreimal.» Dann reihte er sechs Stunden Schlaf aneinander. Ansonsten lief und lief er. Schnelle Schritte, unterstützt mit Wanderstöcken. «Joggen, das geht auf einer solch langen Tour nicht. Auch wenn ich das nicht das erste Mal mache. Wie der Körper über eine Distanz von 430 Kilometern reagiert, das lässt sich nicht voraussehen.» Zwischendurch sei er kurze Strecken gejoggt. Und natürlich am Anfang. «Das verging schnell, als die ersten Sumpfgebiete kamen und die ganzen Schuhe einsanken.»
Heinz Loher macht viel Sport. Manchmal jeden Tag. Im Dezember bereitete er sich konkret vor. Zehn Tage hintereinander joggte er eine zwölf Kilometer lange Strecke mit 400 Höhenmetern. So gewöhnte er seinen Körper daran, jeden Tag seine Leistung zu bringen. Mit Blasen an den Füssen hatte er nie zu kämpfen, auch von Muskelkater blieb er verschont. Und auch das Mehrgewicht konnte er tragen. Acht bis zehn Kilogramm wog der Rucksack, in dem er Schlafsack, Notkocher, Erste-Hilfe-Set, Stirnlampe, Batterien, Powerbank, Ersatzkleider, Gefässe für zwei Liter Wasser, 3000 Kalorien und, und, und mitzutragen hatte. «Ich bin meinem nicht mehr ganz jungen Körper jeden Tag dankbar, dass er das mitmacht», sagt der bald 57-Jährige.
Direkt nachher an die Fasnacht
Dankbar ist er auch, dass er es gewagt hat und dass er sich nun Finisher des «Montane Spine Race» nennen darf. Und vor allem dankbar ist er für die vielen Erlebnisse. «Es war immer wieder herzerwärmend», sagt Loher. Er meint etwa jenen Moment, als ihm in einem kleinen Dorf eine ältere Frau mit Kaffee und Kuchen entgegenkam. Sie habe online verfolgt, wann der nächste Läufer das Dorf passiert. Für jeden einzelnen ging sie aus dem Haus. Es ist ein Beispiel, stellvertretend für viele, die er im ähnlichen Stil erlebte.
Und gebracht hat ihm die Teilnahme am «Montane Spine Race» nicht nur viele Erinnerungen. «Ich war nachher derart in einem Hochzustand, dass ich kaum mehr müde war», erzählt er. Direkt nach dem Winterultrarennen stand für Loher ein zweites grosses, aber jährliches Highlight an, die Fasnacht – ganz ohne Müdigkeit.