Weihnachten ist für alle

  22.12.2023 Region Bremgarten, Region Unterfreiamt, Region Wohlen, Region Oberfreiamt

Über Weihnachten früher und heute – und warum wir dem Menschen vertrauen sollten

Francesco Marra

Ich bin, was gewisse Aspekte betrifft, in einer revolutionären Familie aufgewachsen. Und einer sehr, sehr traditionellen, was andere angeht. Weihnachten zum Beispiel. Ich kann Ihnen ganz genau sagen, was Weihnachten für uns war, auf welche Art und Weise wir Weihnachten erlebten, verstanden und feierten. Es gab dazu eine allgemein anerkannte Formel. Diese war nirgends aufgeschrieben – ich erinnere mich jedenfalls daran nicht als etwas Aufgezwungenes –, aber ich könnte Ihnen mit einer gewissen Sicherheit die Lieder, die Gebete, das Menü, die Gästeliste aufzählen. Die Etikette einer königlichen Familie ist wahrscheinlich strenger, aber wir standen den Windsors in nichts nach, auch weil wir diesem Ritual gerne folgten.

Und dann gab es nicht nur formale und äussere Aspekte zu beachten. An Weihnachten wurden beispielsweise viele Spannungen vergessen, die Diskussionen endeten, es regierte Frieden. Vielleicht ein erzwungener Frieden, aber nichtsdestotrotz Frieden. Ich erinnere mich gut an die Aufforderung an die Kinder: «Streitet nicht, es ist Weihnachten!» Oder an einen anderen, an die Erwachsenen gerichteten Satz: «Darüber sprechen wir am 7. Januar!» Wenn ein Thema den weihnachtlichen Geist bedrohte, wurde es bis am 7. Januar, einen Tag nach Epiphanie, auf Eis gelegt, denn an Weihnachten wird Jesus, der Sohn Gottes, als Kind geboren, Gott, der Mensch wird und kommt, um mitten unter uns zu sein, der Friedensfürst. Wenn die drei Weisen wieder abreisten, bereitete man sich darauf vor, auch dem König Herodes zu begegnen, man konnte wieder diskutieren und streiten, aber nie vor dem 7. Januar.

Ich bin ziemlich sicher, dass das nicht nur für unsere Mittelschicht-Familie, sondern generell in dem sozialen Umfeld, in dem wir lebten, so war. Die Quantität und die Qualität der Gänge des Festessens konnte etwas variieren, aber die Lieder waren dieselben und niemand wäre an Weihnachten herumgehüpft, hätte «Feliz Navidad» gesungen und dazu geklatscht. Oder «Last Christmas». Auch die Gebete oder die Zeiten der Christmette waren für alle gleich. Ich bin, was gewisse Aspekte betrifft, in einem sehr vielfältigen sozialen Umfeld aufgewachsen, unter völlig unterschiedlichen Menschen, aber was gewisse Dinge, gewisse Traditionen, gewisse Rituale betrifft, war es ein sehr homogenes Umfeld und unglaublich einmütig darin: Weihnachten war einfach «so». Und konnte nicht anders sein. Es war natürlich, dass es so war.

Und dann veränderte sich etwas. Vielleicht veränderte sich unsere Gesellschaft, vielleicht veränderten wir uns. Ich weiss es nicht genau, und zu verstehen und erklären zu können, was sich verändert hatte und weshalb, steht auch nicht zuoberst auf der Liste meiner Prioritäten. Ich weiss nur, dass ich nach und nach und ganz natürlich begann, Weihnachten auch auf andere Arten zu feiern und mit Menschen, die eine andere Art und Weise hatten zu feiern und von Weihnachten ein anderes Bild hatten als wir.

Ich habe Weihnachten mit Christinnen und Christen anderer Konfessionen gefeiert und mit Menschen anderer Religionen. Ich habe auch mit Menschen ohne Konfession und mit Atheistinnen und Atheisten, welche die Vorstellung selbst von Weihnachten ablehnten, gefeiert. Ich habe Weihnachten mit Menschen gefeiert, welche eine mehr oder weniger konsumorientierte Vorstellung von Weihnachten oder eine scheinbar oberf lächlichere Haltung hatten, eine pluralistischere, weniger definierte und manchmal sogar eine gleichgültige.

Und bitte, glauben Sie mir: Ich bin kein Vertreter des sogenannten relativistischen Denkens. Ich glaube nicht, dass alles relativ ist und alles okay sei; bloss, weil alles möglich ist. Und ich glaube nicht, dass «nicht das schön ist, was schön ist, sondern dass schön ist, was gefällt», wie eine italienische Redewendung sagt. Denn was hässlich ist, bleibt so oder so hässlich. Ich sage nur, dass ich Weihnachten mit den unterschiedlichsten Menschen (und sehr gerne) gefeiert habe. Mit Menschen, welche sich freuen, weil sie jemandem, der allein ist oder nichts hat, eine warme Mahlzeit schenken können, und Menschen, welche sich darüber freuen, hart zu arbeiten, um jemandem, der zu viel hat, zu einem teuren Preis eine warme Mahlzeit verkaufen zu können. Menschen, die gerne auch an Weihnachten arbeiten, Menschen, die gezwungen sind, auch an Weihnachten zu arbeiten. Menschen, welche sich freuen würden, eine neue A rbeitsstelle zu erhalten, auch wenn es an Weihnachten wäre. Menschen, welche der Wunsch zu feiern vereint, und Menschen, welche keinerlei Lust haben zu feiern, zusammen zu sein, Geschenke «auszutauschen». Aber nicht deswegen ist es weniger Weihnachten für sie. Weihnachten ist für alle und ist allen.

In meinem Leben habe ich verschiedene Predigten in verschiedenen religiösen Gemeinschaften über den «wahren» Sinn von Weihnachten gehört. Und – ganz offen gesagt – habe auch ich die eine oder andere Predigt über den «wahren» Geist von Weihnachten gehalten. A n Weihnachten bezeuge ich meinen Glauben an Gott, der Mensch wird, um unter anderen Menschen zu sein. Wahre Menschen, unterschiedliche Menschen, was die Kultur, die Sprache, das Einkommen, die politischen und religiösen Überzeugungen, die sexuelle Ausrichtung betrifft. Denn auch das charakterisiert die Menschen: Sie sind unterschiedlich. Und wenn also diese Menschen Weihnachten unterschiedlich feiern, gehe ich davon aus, dass der Gott, an den ich glaube, sein Ziel erreicht hat: das Ziel, den Menschen nahe zu sein – allen Menschen – für das, was sie sind, und für das, was sie sein können oder wollen oder müssen. Gott unter den Menschen, so, wie diese Menschen sind.

In anderen Worten: Ich glaube, Weihnachten kann mehr sein als eine Gelegenheit, über den Glauben der heutigen Menschen an Gott nachzudenken. Sondern es kann zu einer guten Gelegenheit werden, über den «Glauben» Gottes an die heutigen Menschen nachzudenken. Den «Glauben» an ihre Fähigkeit, in ihrer Freiheit das Gute zu wählen, an ihren Willen, sich für das Gute zu engagieren. Und ich glaube, Weihnachten kann so für alle zu einer Gelegenheit werden, ein wenig Vertrauen in den Menschen zurückzugewinnen. Und in diesen Zeiten etwas Vertrauen in sich selbst und in die anderen zurückzugewinnen – sich selbst und den anderen ein wenig Vertrauen zu schenken –, wäre fantastisch.

Das ist, was ich glaube, aber das muss in keiner Weise sein, was auch Sie glauben. Ich wünsche Ihnen bloss eine gute Weihnacht. Für alle. Von allen.


Francesco Marra, geboren in Cosenza, Italien, lebt seit bald 30 Jahren in der Schweiz. Der 49-Jährige ist seit 2001 in verschiedenen Funktionen für die Kirche tätig, etwa als Pastoralassistent in der Pfarrei Wohlen, später auch acht Jahre im Pastoralraum Muri, den er zeitweise leitete. 2017 wurde Francesco Marra zum Diakon geweiht. Seit Herbst 2022 ist der Villmerger Leiter des Pastoralraums Oberaargau. Francesco Marra ist verheiratet und Vater von vier erwachsenen Kindern. Das Bild stammt vom Boswiler Fotografen Reinhard Strickler. Beide spenden ihr Honorar. Francesco Marra an das Murimoos, Reinhard Strickler an sein Hilfswerk Bridge in Sri Lanka. Einen Bericht über sein Hilfswerk gibt es im Innenteil.


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