Eine andere Welt tut sich auf
28.06.2022 KelleramtPro Natura Aargau organisierte eine Lesung in Gedenken an Erika Burkart
In diesem Jahr wäre die Schriftstellerin Erika Burkart 100Jahre alt geworden. Deshalb lud Pro Natura Aargau zu einem gemeinsamen Spaziergang rund um die Stille Reuss bei Rottenschwil ein. Rita ...
Pro Natura Aargau organisierte eine Lesung in Gedenken an Erika Burkart
In diesem Jahr wäre die Schriftstellerin Erika Burkart 100Jahre alt geworden. Deshalb lud Pro Natura Aargau zu einem gemeinsamen Spaziergang rund um die Stille Reuss bei Rottenschwil ein. Rita Staubli-Eichholzer las dabei aus ihren bewegenden Werken vor.
Susanne Schild
Die Schriftstellerin Erika Burkart wurde 1922 in Aarau geboren und wuchs in Althäusern bei Aristau im Landhaus Kapf auf. Als Primarlehrerin unterrichtete sie an verschiedenen Schulen.
Rita Staubli-Eichholzer, die an diesem Nachmittag aus ihren Werken las, war eine ihrer Schülerinnen. «Sie unterrichtete mich in der dritten Klasse. Die Zeit bei ihr war für mich der Himmel auf Erden», erinnert sich Rita Staubli-Eichholzer zurück. Ursprünglich sollte der Spaziergang vom Schweizer Schriftsteller und Publizisten Ernst Halter begleitet werden. Ernst Halter war jedoch an diesem Nachmittag verhindert und so sprang Rita Staubli-Eichholzer spontan eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung für ihn ein.
Die Natur spüren
An drei verschiedenen Plätzen an der Stillen Reuss wurde auf diesem Sonntagsspaziergang haltgemacht. Im Schatten alter Bäume las Rita Staubli-Eichholzer dann ausgewählte Textpassagen aus Erika Burkarts Werken vor. «Um aus dem Arbeitsweg einen Weg in die Freiheit zu machen, gehe ich immer häufiger zu Fuss», schrieb Erika Burkart in «Morgenweg, Abendweg». «Auf dem ganzen Hinweg habe ich erst auf der Krete der Moräne, dann hangabgehend, die Stille Reuss im Fernblick.»
In ihrem Werk beschreibt sie die einmalige Landschaft der Stillen Reuss. Die Stille Reuss ist als gut erhaltener Reussaltlauf eines der biologisch vielfältigsten Stillgewässer der Schweiz. Ausser dem grossen, über vier Meter tiefen Altwasser umfasst die Naturschutzzone weitere Stillgewässer wie f lache, zeitweise austrocknende Tümpel und dauernd nasse Geländemulden. Neben den vielfältigen Wasserf lächen prägen weite, ausgedehnte Röhrichtbestände das Landschaftsbild. Mitten in dieser Landschaft sitzend konnte man die Worte von Erika Burkart noch intensiver geniessen. Sie nicht nur hören, sondern auch spüren.
Das Vogelorakel
Zur Zeit des Vikariats von Erika Burkart war der Kuckuck hier heimisch. «Auch heute ist er noch zu hören», weiss Rita Staubli-Eichholzer. Genau wie es Erika Burkart beschreibt, lauscht auch sie dem Ruf des Kuckucks. «Zu hören ist er immer ab April bis Ende Mai. Einmal bin ich stehen geblieben und habe mitgezählt. 97-mal hat er gerufen», sagt Staubli-Eichholzer. Das Vogelorakel soll Auskunft darüber geben, wie alt man wird. «Jeder Ruf steht für ein Lebensjahr», erklärt die Vorleserin. Bei Erika Burkart waren es nur 32Rufe. Sie schreibt: «Noch habe ich das Schicksalsjahr nicht erreicht; laut Vogelorakel bleibt mir noch nahezu ein Jahrzehnt.» Erika Burkarts Kollege Armin, ein Hobby-Ornithologe, vermutet an die dreissig Vogelarten, denen die Stille Reuss ein sicheres Revier bietet. «Das trifft auch noch heute zu», weiss ein Teilnehmer. «Unter ihnen eben auch der Kuckuck, obwohl er sonst im Mittelland verschwunden ist.»
Rücksichtslose Ausbeutung der Natur
«Auch später, als meine jeweiligen Schulwege nach anderen Richtungen führten, ging ich den Baum ab und zu besuchen. Nur einmal habe ich meinen Windling, den Rosenverwandten, blühen sehn. Eines Tages war er fort. Gleich anderen Einsamlingen war er umgelegt worden in einer jener furchtbaren Aktionen, die unter Wortmasken wie Flurbereinigung, Güterregulierung, Wegbegradigung einmal mehr die Landschaft ‹säuberten›, entleerten, die Hecken abrasierten, Solitärbäume und Einsiedelbüsche eliminierten, die auch Gift einsetzten, falls sich, trotz radikalem Vorgehen, in der Wiese noch Schöngräser und im ‹pflegeleichten› Acker Mohn zeigen sollten. Die Männer, die sich profilierten in diesen Kämpfen, nannten sich ‹Bereiter einer besseren Zukunft›», schreibt Burkart. «Ja, all das haben wir erlebt», meinte Rita Staubli-Eichholzer, als sie diese Zeilen vorlas. «Wenn ich das so lese, muss ich sagen, dass wir es verlernt haben, das Riechen, das Hören und das Sehen. Wer nimmt sich heute dafür noch Zeit?»
Gegenstück zur digitalen Welt
Die Worte von Erika Burkart regten auch die Teilnehmer zum Nachdenken an. «Ihre Texte sind modern. Viele von uns leben nur mehr in einer digitalen Welt. Die Werke von Erika Burkart sind das Gegenstück dazu. Es sind die vielen kleinen Details, die die Erfahrung im Hier und Jetzt lebendig machen. Und dann noch die Kunst, das alles in Worte zu fassen.»«Früher wurde in der Literatur viel mehr und detaillierter über Tierarten geschrieben. Der Verlust der Biodiversität ist auch in der Literatur spürbar», ist Matthias Betsche, Geschäftsführer Pro Natura Aargau, der ebenfalls an dem Spaziergang teilnahm, überzeugt. «Wenn man die Zeilen von Erika Burkart liest, tut sich einem eine ganz andere Welt auf», sagte Staubli-Eichholzer. «Von dieser anderen Welt war man an diesem Spaziergang ein Teil. Deshalb haben wir uns auch entschlossen, die Lesung an der Stillen Reuss zu halten», erklärte Ursina El Sammra, Projektleiterin Umweltbildung, Pro Natura Aargau. «Ihre Werke gehören da hin, wo sie spielen. Der Kontakt zu ihrem Daheim ist hier besonders spürbar.»