Spitäler sind überlastet
14.09.2021 WohlenRegierungsrat Jean-Pierre Gallati aus Wohlen
«Die Impfzahlen sind in den letzten Tagen stark angestiegen», kann Regierungsrat und Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati aus Wohlen verkünden. Dies scheint offenbar auch dringend nötig zu sein. Denn die ...
Regierungsrat Jean-Pierre Gallati aus Wohlen
«Die Impfzahlen sind in den letzten Tagen stark angestiegen», kann Regierungsrat und Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati aus Wohlen verkünden. Dies scheint offenbar auch dringend nötig zu sein. Denn die Coronasituation hat sich auch im Kanton Aargau wieder verschärft – vor allem das Personal der Spitäler ist am Anschlag. Auch in Muri. «Die Intensivstationen leisten hervorragende Arbeit, sie sind aber wieder überlastet», erklärt Gesundheitsdirektor Gallati. --dm
«Die Situation ist angespannt»
Interview zur aktuellen Coronasituation mit Regierungsrat und Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati aus Wohlen
Die Impfquote ist tief. Die Spitäler und ihr Personal kommen wieder an die Grenzen – auch im Spital des Freiamtes in Muri. «Für das Personal bedeutet das eine enorme Belastung», sagt Regierungsrat Jean-Pierre Gallati zur Situation. Die weiterhin herausfordernd sei.
Daniel Marti
Die Impfquote in der Schweiz und im Kanton Aargau – beide weisen etwa den gleichen Durchschnittswert auf – ist viel zu tief. Wie ordnen Sie die gegenwärtigen Werte ein, auch im Vergleich mit dem vorbildlichen Ausland?
Jean-Pierre Gallati: Im Kanton Aargau sind 70 Prozent der erwachsenen Personen mindestens einmal geimpft. Die Jüngeren können sich erst seit dem Sommer impfen. Aber ja, die aktuellen Impfquoten von 58 Prozent im Kanton Aargau beziehungsweise 59 Prozent in der Schweiz, auf die ganze Bevölkerung gemessen, sind noch zu tief. Spanien und Italien standen sicher stärker unter dem Eindruck der überlasteten Spitäler. Diese beiden Länder haben auch deutlich mehr Menschen wegen Covid-19 verloren.
Der Kanton Aargau fährt gegenwärtig eine Kampagne fürs Impfen. Was versprechen Sie sich davon und wann soll der Aargau bei einer akzeptablen Impfquote von über 70 Prozent sein?
Mit der Delta-Variante könnte es gar eine Immunisierungsrate von 80 Prozent brauchen. Dabei wären aber auch die von Covid-19 genesenen Personen zu berücksichtigen. Die laufende aargauische Inseratekampagne für das Impfen dient der Steigerung der Impfbereitschaft in der Bevölkerung. Zusammen mit dem Bundesamt für Gesundheit und anderen Kantonen prüfen wir weitere Kanäle, um Migranten vermehrt zu erreichen. Die Impfzahlen sind in den letzten Tagen stark angestiegen.
Nun werden sogar die Impfquoten in einzelnen Ortschaften veröffentlicht. Jetzt können gar Gemeinden an den Pranger gestellt werden – Ist das okay?
Diese Veröffentlichung erfolgte gestützt auf die aargauische Gesetzgebung, welche eine Publikation dieser Daten auf Anfrage hin verlangt. Den Nutzen dieser Veröffentlichung sehe ich auch nicht; allerdings entstehen daraus auch keine Nachteile. Jedenfalls sind keine negativen Reaktionen bekannt.
Wie beurteilen Sie die Situation in den Spitälern des Kantons Aargau – inklusive Muri?
Die aargauischen Spitäler müssen seit Ende August teilweise wieder Operationen verschieben, um auf den Intensivstationen Covid-19-Patienten behandeln zu können. Im Spital Muri wird zurzeit täglich überprüft, ob der Operationsbetrieb uneingeschränkt aufrechterhalten bleiben kann. Gestern Montag waren in Muri zwei von fünf Betten – davon vier mit Beatmungsmöglichkeit – mit Covid-Patienten belegt und eines durch einen Non-Covid-Patienten. Aufgrund des Fachpersonalmangels können auf der dortigen Intensivstation aktuell nur drei von vier Betten mit Beatmungsmöglichkeit mit Covid-Patienten belegt werden. Das verdeutlicht die nach wie vor angespannte Situation.
Und wie ist die Belastung des Personals in den Spitälern?
Die vier aargauischen Intensivstationen, darunter auch jene im Spital Muri, leisten hervorragende Arbeit, sind aber wieder überlastet. Für das Personal bedeutet das eine enorme physische und psychische Belastung. Die Behandlung von Covid-Patienten ist körperlich herausfordernd. Die Intensivpflegerinnen und Ärzte müssen zum Beispiel Patienten in die Bauchlage drehen, um die Durchblutung der Lunge zu verbessern – je nach Patient benötigt das sechs Personen in voller Schutzmontur. Auch psychisch ist die Situation nicht einfach. Das Pflegepersonal beendet sich in der vierten Welle und behandelt zu rund 95 Prozent Personen, die sich nicht haben impfen lassen. Geimpfte Personen mit schweren Krankheitsverläufen gibt es wenige.
Die Zertifikatsppicht für Restaurants und Veranstaltungen in Innenräumen führte zu vielen Diskussionen. Warum braucht es diese Pflicht unbedingt?
Der Regierungsrat unterstützt die vom Bundesrat beschlossene Ausweitung der Zertifikatsppicht. Die Alternative zum Zertifikat ist ja nicht einfach kein Zertifikat, sondern wieder Schliessungen oder ein Lockdown. Da ist die Zertifikatsppicht klar die bessere Lösung.
Mit Ihrer Partei, der SVP, sind Sie als Regierungsrat nicht immer auf der gleichen Linie. Macht dies das Regieren schwieriger oder gehört das einfach dazu?
Es gibt keine schweizerische Partei mit programmatischen Aussagen zur Bekämpfung von Pandemien. Mit der aargauischen SVP habe ich keine Differenzen. Die SVP Schweiz hat übrigens vor wenigen Jahren das heute gültige Epidemiengesetz offiziell gutgeheissen. Die SVP-Bundeshausfraktion hat den verschiedenen Versionen des Covid-19-Gesetzes zugestimmt, und auch die lautesten «Corona-Skeptiker» der SVP Schweiz sind doppelt geimpft. Die von Ihnen angesprochenen Differenzen zwischen der SVP Schweiz und den sieben schweizerischen SVP-Gesundheitsdirektoren sind nicht so gross.
Aus SVP-Kreisen kamen auch zwei Vorschläge: Ungeimpfte sollen bei einer Infektion auf einen Platz auf der Intensivstation verzichten (Regierungsrätin Zürich Natalie Rickli) und Ungeimpfte sollen Tests selber zahlen (Bundesrat Guy Parme lin). Wie ist Ihre persönliche Haltung zu diesen beiden Vorschlägen?
Der Vorschlag von Regierungsrätin Natalie Rickli beruht auf der Annahme, dass alle ungeimpften Personen bereit wären, die Folgen ihres eigenen Handelns zu tragen. Das ist aber leider unrealistisch. Was die Kostenübernahme der Tests betrifft, so halte ich es für richtig, dass die Kosten genau gleich bezahlt werden wie bei anderen Infektionskrankheiten oder medizinischen Tests. Das beruht aber nicht auf der Unterscheidung zwischen geimpft und nicht geimpft.
In verschiedenen Medien wurde der Zwist mit Nationalrat Andreas Glarner hochgespielt. Er hat eine ziemlich andere Meinung als Sie. Wie ist das Verhältnis zu ihm, verkracht oder wieder gute Kollegen?
Was Covid-19 angeht, haben Andreas Glarner und ich erstens unterschiedliche Wahrnehmungen und zweitens ganz andere «Rezepte» zur Bewältigung. Das wurde nicht hochgespielt, sondern das ist so. Das sehr gute persönliche Verhältnis zwischen Andreas Glarner und mir leidet nicht darunter.
Abschliessend eine Anregung aus der Bevölkerung: Im Bezirk Bremgarten gibt es nur Testmöglichkeiten in Dottikon und Villmergen. Warum sorgt die Gesundheitsdirektion nicht für weiter niederschwellige Testmöglichkeiten?
Wir empfehlen Personen, die einen Test benötigen, sich frühzeitig um einen Termin zu bemühen. Auf www. ag.ch/covid-test gibt es eine Übersicht über die dem Kanton gemeldeten Möglichkeiten. Grundsätzlich ist es Aufgabe von Leistungserbringern im Gesundheitswesen, Covid-19-Tests durchzuführen und die entsprechende Nachfrage zu befriedigen. Die Leistungserbringer stellen gemäss unserer Erfahrung eine Versorgung der Bevölkerung auf hohem Niveau sicher und passen das Angebot der Nachfrage soweit möglich an. Der Kanton selbst betreibt keine Covid-19-Testcenter, sondern fokussiert sich auf das Impfangebot und das repetitive Testen.