Sommerserie «Zwei Welten»
16.07.2021 WohlenViele Menschen in der Schweiz besitzen zwei Staatsbürgerschaften oder haben ausländische Wurzeln. Sie tragen mehrere Kulturen in ihren Herzen. In der Sommerserie «Zwei Welten» werden in den kommenden Wochen verschiedene dieser Personen porträtiert. Den Anfang macht die ...
Viele Menschen in der Schweiz besitzen zwei Staatsbürgerschaften oder haben ausländische Wurzeln. Sie tragen mehrere Kulturen in ihren Herzen. In der Sommerserie «Zwei Welten» werden in den kommenden Wochen verschiedene dieser Personen porträtiert. Den Anfang macht die Wohlerin Angelika Castelli, die einen japanischen Pass besitzt. --zg
«Bin beides voll und ganz»
Serie «Zwei Welten»: Angelika Castelli besitzt den Schweizer und den japanischen Pass
Der Vater ein Bergler aus dem bündnerischen Davos, die Mutter Japanerin, sie selber im Freiamt aufgewachsen. Angelika Castelli trägt ganz verschiedene Kulturen in sich und kann nach Bedarf wechseln. «Gerade in Japan ist das richtige Verhalten wichtig», weiss sie.
Chregi Hansen
Sie sitzt schon vor der vereinbarten Zeit im Café. Das ist kein Wunder. «Die Schweizer gelten als pünktliches Volk, die Japaner haben in Asien den gleich Ruf. Daher muss ich ja quasi überpünktlich sein», lacht Angelika Castelli bei der Begrüssung.
Die 26-jährige Wohlerin hat zwei Pässe: den schweizerischen und den japanischen. Doch welche Kultur ist ihr näher? Ist sie mehr Schweizerin oder Japanerin? Sie muss keine Sekunde nachdenken. «Ich bin nicht halb Schweizerin oder halb Japanerin. Ich bin beides voll und ganz», erklärt sie mit Nachdruck. Allerdings: In Japan gilt dies nur bedingt. Für die Japaner gelten Menschen mit einem ausländischen Elternteil nur als halbe Japaner. Sie haben sogar einen eigenen Begriff dafür: Hafu, vom englischen Wort «half» abgeleitet. Diese werden mit etwas Skepsis betrachtet, wenn auch nicht unbedingt abweisend. Eher neugierig-distanziert. «Seit ich den japanischen Pass erhalten habe, ist es besser geworden», hat Castelli festgestellt.
Hand geben statt verbeugen
Und doch erlebt sie immer wieder komische Situationen. Meldet sie sich bei einem Japanbesuch per Telefon in einem Coiffeursalon an, so ist das Erstaunen gross, dass eine «Ausländerin» erscheint. «Meist sprechen mich die Japaner dann auf Englisch an. Sie sind sich nicht gewohnt, dass Westler ihre Sprache können.» Sie selber ist zweisprachig aufgewachsen, doch beschränkte sich die Kommunikation meist auf Kontakte mit Verwandten. Die Sicherheit in der Sprache kam nur allmählich und mit der Zeit. «Ich habe viel selber gelernt, indem ich Filme schaute und Mangas las, dazu kam ein dreiwöchiger Intensiv-Sprachkurs.» Auch mit den verschiedenen Verhaltensmustern hat sie kaum Probleme, kann meist schnell switchen. Auch wenn es ihr durchaus mal passiert, dass sie jemandem die Hand geben will, statt sich zu verbeugen. «Die meisten Japaner sind erst irritiert, nehmen es aber mit Humor», erzählt sie.
Japanischer Reis und Schweizer Joghurts
Nicht nur die Sprache hat sie in ihrer Kindheit gelernt, sondern auch viele Einblicke in die Kultur erhalten. Und die hat es in sich, wie die Studentin der Kunstgeschichte weiss. «Für uns, die nicht im Land leben, ist es fast unmöglich, alle Facetten der japanischen Kultur mit all ihren Traditionen und Ritualen zu erfassen», sagt sie. Obwohl sie sich im Rahmen ihres Studiums speziell mit der Kunstgeschichte Ostasiens beschäftigt hat, masst sie sich nicht an, alles zu verstehen. Durch dieses Studium hat sie dafür viele andere «Hafus» kennengelernt, beispielsweise aus Amerika. «Jeder von ihnen hat eine andere Geschichte, jede Kombination ist einzigartig. Es ist schön, sich auszutauschen», hat sie festgestellt.
Bekannt ist Japan für seine vielen Bräuche. Einige davon hat die Mutter auch in der Schweiz gepflegt. Etwa das Reinigen des Hauses und der Umgebung an Neujahr. «Das war aber bei uns nie eine Angelegenheit, die gross zum Thema gemacht wurde. Meine Mutter hat das für sich zelebriert, wir haben es einfach mitbekommen.» Erzogen wurden die beiden Töchter christlich, aber sie wissen auch über Shintoismus und Buddhismus Bescheid. Auch der Ahnenkult ist ihr geläufig. Das Nebeneinander der beiden Kulturen war Alltag und nie etwas Besonderes. Auch japanisches Essen kam bei Castellis regelmässig auf den Tisch. Hier wird der jungen Frau jeweils bewusst, dass sie zwei Kulturen in sich trägt. «Wenn ich ein paar Tage lang keinen Reis habe, dann bekomme ich Heisshunger darauf. Umgekehrt vermisse ich bei den Besuchen in Japan das Schweizer Joghurt», lacht sie.
Die Wohlerin kann ihre Herkunft nicht leugnen, die japanischen Gesichtszüge sind sichtbar. In der Schweiz hatte sie deswegen kaum je negative Erlebnisse. «In der Schule gab es ab und zu einen dummen Spruch. Aber grundsätzlich haben die Japaner hier ein positives Image, darum musste ich nie unter meiner Herkunft leiden.» Und erzählt eine Anekdote. Als sie sich kürzlich für eine Stelle bewarb, wurde sie kaum zu ihren Fähigkeiten und ihren guten Noten befragt. Dafür wollte das Gegenüber viel über Japan wissen.
Beliebte Schweizer Sportler
Und wie erlebt sie es umgekehrt? Ausländer galten in Japan lange als unerwünscht, noch heute ist deren Anteil im Vergleich zu anderen Wirtschaftsnationen sehr gering. «Japan ist im Prinzip sehr gastfreundlich und interessiert an Menschen aus anderen Ländern. Aber nur für kurze Zeit, sie sollen dann auch wieder gehen», berichtet die Wohlerin schmunzelnd. Sie ortet eine Art Inseldenken, geografisch bedingt hätten sich ihre Landsleute meist ein wenig abgeschottet und bleiben unter sich.
Schweiz und Japan, das passt für sie aber bestens. Denn bei allen kulturellen Unterschieden gibt es eben auch etliche Gemeinsamkeiten. So gelten beide Nationen nicht nur als pünktlich, sondern auch als fleissig und wirtschaftlich erfolgreich. Überhaupt, die Schweiz habe in Japan ein gutes Image. «Das liegt nicht zuletzt an den erfolgreichen und sympathischen Sportlern wie Roger Federer und Stéphane Lambiel», weiss Castelli. Gerade Letzterer sei sehr bekannt, denn Eiskunstlauf ist im ostasiatischen Land ungeheuer populär. Ob hingegen der Wohler Andi Hug noch immer ein Star ist in Japan, das kann sie nicht beantworten. Erstens war sie erst sechs Jahre alt, als Hug starb. Und zweitens hat sie wenig Interesse für Kampfsport.
Apropos Sport: In wenigen Tagen beginnen die Olympischen Spiele in Japan. Wie ist die Stimmung in ihrer zweiten Heimat? «Ganz schlecht. Die Mehrheit im Land versteht nicht, dass man die Spiele trotz Corona durchboxt», ärgert sich die Studentin. Die Olympischen Spiele würden Ressourcen beanspruchen, welche besser zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt würden, findet sie. Über die politischen Vorgänge im Land hält sie meist ihre Mutter auf dem Laufenden. «Sie ist sehr interessiert an allen Neuigkeiten und gibt sie uns dann weiter», erzählt sie.
Sie freut sich, wenn sie wieder hinfliegen kann
Angelika Castelli hat ihr ganzes Leben in Wohlen verbracht, war aber auch sehr oft in Davos in den Ferien, auch diese Gegend ist ihr dadurch nahe. In Japan war sie früher regelmässig, aber maximal sechs Wochen am Stück. Sie kann sich aber durchaus vorstellen, auch mal längere Zeit dort zu leben und vielleicht sogar im Land zu arbeiten. Aber vorerst liegen ihre Prioritäten in der Schweiz und beim Studium. Da muss Japan vorläufig warten. «Aber ich freue mich, wenn ich wieder hinfliegen kann», sagt sie zum Schluss.