Suizid als letzte Emanzipation
27.04.2021 WohlenVortrag, Diskussion und Playbacktheater im Chappelehof
Eine bewegende, anregende und berührende Veranstaltung zum Thema Suizid, die auch virtuell verfolgt werden konnte. In grossem Kontext wurde versucht, Wissen zu vernetzen und eine zeitgemässe Diskussion ...
Vortrag, Diskussion und Playbacktheater im Chappelehof
Eine bewegende, anregende und berührende Veranstaltung zum Thema Suizid, die auch virtuell verfolgt werden konnte. In grossem Kontext wurde versucht, Wissen zu vernetzen und eine zeitgemässe Diskussion über die Sterbehilfe zu führen.
Susanne Schild
«Das Thema Suizid hat nicht nur in der Schweiz, Belgien und den Niederlanden eine erstaunliche Aktualität», betont Jean-Pierre Wils zu Beginn seines Vortrags über sein aktuelles Buch «Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation», das am 17. März erschienen ist. Versucht wurde an diesem Abend, die Debatte über den Suizid als letzten Akt der Selbstverwirklichung in grossem Kontext zu führen. Josefine Krumm moderierte die Veranstaltung, die sich aus einem Vortrag, einer anschliessenden Diskussion und einem Playbacktheater zusammensetzte. Die Initiative für diesen interaktiven Abend ging vom Verein «Nichten und Neffen» aus. Dieser unterstützt Menschen ab 30 Jahren in herausfordernden Lebenssituationen. Er ermöglicht und fördert Begegnung und damit soziale Unterstützung und trägt zur Stärkung von Selbstwirksamkeit bei. Weitere Informationen unter www. nichten-und-neffen.ch.
Suizid als Akt menschlicher Autonomie
Jean-Pierre Wils, Professor an der Radboud-Universität Nijmegen in den Niederlanden, Philosoph und Theologe, hat sich Anfang der 90er-Jahre mit dem Thema Suizid intensiv auseinandergesetzt. Damals arbeitete er als Seelsorger auf zwei Intensivstationen. «Dort wurde ich mit dem schrecklichen Panorama des Sterbens konfrontiert.» Damals hat er eine eher konservative Haltung im Hinblick auf die Liberalisierung der Sterbehilfe vertreten. «Inzwischen bin ich zu einem Befürworter geworden, jedoch mit liberalen Gesetzen.»
Die Selbsttötung, der «Selbstmord», den man einst als moralisch verwerlich oder als die Folge einer psychischen Pathologie betrachtete, sei zu einer «empfehlenswerten», weil rationalen Weise, das Leben zu beenden, geworden.
Wenn auch nicht als heroische Tat, wie oft in der Antike, so scheint der Suizid doch als Akt menschlicher Autonomie in Angelegenheiten des Sterbens gelten zu dürfen. Lange Zeit galt der Suizid durch den Einfluss des Christentums als «schwerste Sünde». Eine Veränderung trat im 16. Jahrhundert ein. Damals warb man für mehr Verständnis dafür, dass ein Mensch sein Leben selbst beendet, weil er sein Leiden nicht mehr ertragen kann. Suizid aus einer existenziellen Notlage heraus.
Begrenzungen sind nötig
Je näher man an die Gegenwart kommt, desto mehr werde der Suizid normalisiert und propagandiert. «Suizid als rationale Wahl.» Es braucht kein Leiden mehr, allein der Sinnlosigkeitsverdacht, «ich habe mein Leben gelebt», reiche aus, sein Leben beenden zu dürfen. Diese Entwicklung, die mittlerweile stattfindet, stuft Jean-Pierre Wils als gefährlich ein. «Wir geraten auf eine schiefe Bahn, wenn Kriterien für die Hilfe zum Sterben und zum Suizid im Besonderen abgelehnt werden und die Selbsttötung zu einem normalen Lebensabschluss zu werden droht.» Der Geist sei aus der Flasche, denn es würden Begrenzungen fehlen.
Selbsttötung wird überstrapaziert
Die Debatte müsse über die Autonomie aus der Engführung über die Ethik hinaus verlagert werden, fordert Wils. «Wir drohen Opfer einer Realfiktion zu werden», warnt er. Der Mensch versucht sein Leben bis zum Schluss selbst zu gestalten. «Wir sind ständig damit beschäftigt, unsere Biografie möglichst optimal zu gestalten. Bloss nichts dem Zufall überlassen, das Leben ständig kontrollieren.» Man wolle die Passivität hinter sich lassen, aktiv bis zum Schluss bleiben.
Weiter kritisiert Wils die Autonomievorstellung. «Niemand hat mehr das Recht, einen anderen zu fragen, weshalb er etwas macht, solange er dabei nicht anderen einen Schaden zufügt.» Die Autonomie dominiere zu stark, warnt Wils. «Das zufällige Weiterleben, obwohl die Biografie erschöpft ist und die Biologie noch weiterpendelt, setzt uns unter einen schleichenden Druck.»
«Wird die Selbsttötung hier nicht überstrapaziert? Ist das selbstbewusste Plädoyer für den assistierten Suizid in die Fänge einer Kontrollund Selbstoptimierungsideologie geraten? Gehört das ‹gute Sterben› zu einem Programm, das die Verkehrung der Authentizität in einen stillen Zwang übersieht?», sind die Fragen, die sich Wils stellt.
Die «Verdauungshilfe» gab es zum Schluss
Daher plädiert er für liberale Gesetze. «Wir brauchen materielle Kriterien.» Der Suizid sei nicht normal, sondern tragisch. «Der Suizid ist nicht der Triumph des aufgeklärten Verstandes, sondern der Verlust des Lebens», schliesst Jean-Pierre Wils seinen Vortrag.
Anschliessend fand ein fünfzehnminütiges Gespräch des Autors mit Peter Michalik von der Fachstelle Bildung und Propstei statt. Jean-Pierre Wils erläuterte hier unter anderem, was ihn dazu bewogen hat, sich beruflich mit dem Tod zu befassen. «Der Tod beschäftigt mich stark, obwohl ich die Gründe, weshalb ich das mache, selbst auch nicht so genau durchschaue.» Durch das Gespräch mit Peter Michalik erhielt man einen noch tiefer gehenden Einblick in die Denkweise von Jean-Pierre Wils.
Die Reaktionen der Zuhörer und des Publikums nahm das Playbacktheater gehdicht.ch entgegen und spielte sie ad hoc zurück. «Eine ‹Verdauungshilfe›, nachdem so viel gesprochen wurde», wie Moderatorin Josefine Krumm es treffend bezeichnete. In interaktiver Form wurden unter anderem die Themen Abschied, Endlichkeit und der Tod dargestellt. Gedanken wie «Ich bin froh, dass ich heute lebe und meine suizidale Krise in der Jugend überwunden habe» wurden gespielt. «Ich bin tief beeindruckt von dem Gesehenen. Es ist das erste Mal, dass ich ein Playbacktheater erleben durfte», meinte Jean-Pierre Wils. Durch das Playbacktheater habe er gemerkt, wie wichtig der künstlerische Input bei dieser Thematik sei. «Durch die Darbietung kamen der Reichtum und die Vielfalt dieser Thematik zum Ausdruck. Die Welt ist viel reicher, als man in Worte fassen kann.»
Buchbestellung: Jean-Pierre Wils «Sich den Tod geben. Suizid – eine letzte Emanzipation?», S. Hirzel Verlag, 2021.