50 Jahre Frauenstimmrecht

  05.02.2021 Wohlen

Die Schweiz rühmt sich gerne ihrer urdemokratischen Strukturen. Sieht sich oft als Vorbild für viele andere Länder. Doch wenn es um die Gleichberechtigung der Frau geht, dann hinkte unser Land fast allen anderen weit hinterher. Erst 1971 erhielten die Frauen auf nationaler Ebene das Stimm- und Wahlrecht. Und damit die Möglichkeit, sich politisch einzubringen. Zum Vergleich: In Finnland erfolgte dieser Schritt bereits 1906, in Norwegen 1913, in unseren Nachbarländern Deutschland und Österreich 1918. Zum Zeitpunkt, als die Schweizer endlich Ja sagten, waren nur noch zwei andere Länder fest in Männerhand. Portugal und Liechtenstein. Wahrlich kein Ruhmesblatt. Wie der Abstimmungskampf damals im Freiamt verlief, zeigt ein Blick ins Archiv. --chh


Ansichten wie aus dem Mittelalter

Die Einführung des Frauenstimmrechts beschäftigte vor 50 Jahren auch das Freiamt

Am 7. Februar 1971 ist es so weit. Die Schweizer Männer stimmen der Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen zu. Als eines der letzten Länder Europas gewährt die Schweiz den Frauen die Mitbestimmung. Zuvor wurde um das Thema emotional gestritten. Auch in Wohlen.

Chregi Hansen

Anfang Februar 1971. Der Wohler Max Forster fährt im Bob der Gebrüder Schärer zu WM-Gold. Das Team von La Chaux-de-Fonds wird zum vierten Mal in Folge Schweizer Meister im Eishockey. Astronauten der Apollo 14 landen auf dem Mond. Die Swissair nimmt die erste Boeing 747, Jumbo-Jet genannt, in Betrieb. Und in Wohlen drängen sich gleich drei internationale Fernseh-Teams ins ehrwürdige Casino.

Grund für diesen Grossaufmarsch: Am 7. Februar stimmen die Schweizer einmal mehr über die Einführung des Frauenstimmrechts ab. Und im Casino Wohlen findet im Vorfeld eine Podiumsdiskussion statt. Vier Tage vor dem Urnengang laden die Ortsparteien zum ersten Informationsabend. Zu den Organisatoren zählen: die Christlichdemokratische Volkspartei, Christlich-Soziale Volkspartei, Frauenpodium Wohlen, Freie Stimmbürger, Freisinnige Partei, Landesring der Unabhängigen, Sozialdemokratische Partei, Stimmbürger Anglikon und Team 67.

Märchentante spricht in Wohlen Klartext

Eingeladen sind zwei bekannte Referentinnen. Für die Contra-Seite spricht an diesem Abend Gertrud Haldimann, Präsidentin des Bundes der Schweizerinnen gegen das Frauenstimmrecht. Sie hatte sich bereits 1959 aktiv für ein Nein eingesetzt. Für das Stimmrecht der Frauen kämpft die bekannte Märchenerzählerin Trudi Gerster, die drei Jahre zuvor als eine der ersten Frauen in ein schweizerisches Parlament gewählt wurde, in den Grossen Rat von Basel-Stadt. Neben vielen interessierten Zuhörern sind die Fernsehstationen der ARD, des Bayerischen Rundfunks und des holländischen Fernsehens vor Ort. Die emotional geführte Debatte um das Frauenstimmrecht, sie sorgte längst auch international für grosses Aufsehen.

Die Argumente, die aufgetischt werden an diesem Abend: Gegnerin Haldimann spricht davon, dass man Frauen nicht zu etwas verpflichten dürfe, was sie nicht können. Sie betont den Wesensunterschied zwischen Mann und Frau und dass sich Frauen nicht für Politik interessieren. Und die Männer hätten die Aufgabe doch bisher gut gemacht. Der Redaktor des «Wohler Anzeiger» schreibt in diesem Zusammenhang von «Ansichten aus dem Mittelalter».

Für Gerster geht es nicht nur um das Stimmrecht. Wenn sich Frau in der Familie wohlfühle und nicht wolle, müsse sie sich nicht unbedingt für Politik interessieren. Was aber sei mit all den Frauen, die allein seien, die alleine für ihre Rechte kämpfen müssen. Und sie berichtet von ihren eigenen Erfahrungen als Grossrätin in Basel. Sie stört sich besonders am Spruch, die Frauen wollten das Stimmrecht gar nicht. Die Männer seien damals auch nicht gefragt worden», kontert sie.

Spätere Bundesrätin in Bremgarten zu Gast

Es folgt eine Diskussionsrunde unter der Leitung des damaligen Einwohnerratspräsidenten Toni Wohler, an der auch der Wohler Gemeindeammann Rudolf Knoblauch und die Wohler Schulpflegerin Ruth Weber-Michel teilnehmen. Über den Verlauf der Debatte schweigt sich der Bericht aus. Zu lesen ist immerhin, dass die Flüsterpropaganda der Gegner nicht ganz lupenrein sei. Als Beispiel nennt der Redaktor das Argument, dass Frauen keinen Militärdienst leisten. Dieser Dienst sei aber bei den Männern auch keine Voraussetzung, um abstimmen zu dürfen, sonst müsste man die Nichttauglichen auch ausschliessen, heisst es.

Das Thema bewegte damals auch das Freiamt. Nur wenige Tage vor dem Anlass im Casino gab es in Bremgarten ebenfalls ein Streitgespräch. Unter dem Titel «Frauen in der Politik» kam es zu einer grossen Podiumsdiskussion. Auch hier entdeckt man unter den Teilnehmenden einen sehr bekannten Namen: Elisabeth Kopp, damals frischgebackene Gemeinderätin in Zumikon und später die erste Bundesrätin der Schweiz. Gleich neun Teilnehmende waren auf dem Podium dabei – acht waren für die Einführung, nur einer dagegen. Im Publikum erhielt dieser aber meist mehr Zuspruch, wie der Redaktor festhält. «Der Kampf um das Frauenstimmrecht ist noch nicht gewonnen», schreibt er folgerichtig.

Viele Leserbriefe, wenig Inserate

In Wohlen wurde aktiv für ein Ja geworben. So wurde Anfang Januar 1971 das überparteiliche Frauenpodium gegründet. «Wir sind bereit, die Verantwortung für die Aufgaben der Öffentlichkeit mitzutragen», so das Credo der Organisation. Diese Zeitung rief aktiv zu Leserbriefen auf und kreierte dafür eine Extra-Rubrik. Tatsächlich wurde leidenschaftlich und sehr emotional gestritten. Praktisch in jeder Ausgabe wurden zehn oder mehr Zuschriften abgedruckt. Einen interessanten Vorschlag brachte ein Mann ein, der sich selber als Gegner bezeichnete: Die Männer sollen doch den Abstimmungszettel durch ihre Frauen ausfüllen lassen, dann sehe man, ob sie überhaupt ein Ja wollen.

Hingegen war der Abstimmungskampf kaum Thema im Inserate-Teil des «Wohler Anzeigers». Das Kaufhaus Modern wies auf den Ausnahme-Verkauf hin, die Schweizerische Bankgesellschaft lockte mit 5 Prozent Zins auf Sparkonten, Kurt Wernli gab die Schliessung seiner Velo-Werkstatt am Dammweg bekannt, im Kino Rex lief die «West Side Story». Und bei der Metzgerei Knoblauch gab es das Paar Wienerli für 95 Rappen. Inserate zur Abstimmung findet man hingegen nur wenige. Ein grosses und zwei kleinere für ein Ja, drei kleinere für ein Nein. Das war es schon.

Kurioses Resultat in Wohlen

Das Resultat ist bekannt. Die Schweiz sagte am 7. Februar 1971 endlich Ja zur Einführung des Frauenstimmrechts. Zu einem kuriosen Ergebnis kam es aber in Wohlen selber. Mit 899 Ja zu 845 Nein gönnten die Wohler Männer den Frauen das Stimmund Wahlrecht zwar auf kantonaler Ebene, die Einführung auf eidgenössischer Ebene wurde aber mit 862 zu 891 Nein verworfen. Und der «Wohler Anzeiger» rechnete aus, dass in Zukunft den 2780 stimmberechtigten Männern der Gemeinde 3500 Frauen gegenüberstehen.

Kleine Anekdote am Rande: Am gleichen Abstimmungswochenende wurden in Wohlen vier Lehrkräfte gewählt. Abstimmen duften nur die Männer, alle vier Lehrpersonen waren Frauen. Immerhin: Viermal gab es ein sehr deutliches Ja.


«Wie viel schlimmer wird es werden?»

Ausschnitte aus Leserbriefen, die im «Wohler Anzeiger» erschienen sind

Von Anfang Januar bis zum Freitag vor der Abstimmung erschienen im «WA» Dutzende von Leserbriefen zum Thema «Frauenstimmrecht». Nachfolgend Ausschnitte aus verschiedenen Zuschriften. Die Absender sind so aufgeführt, wie sie in der Zeitung abgedruckt waren.

«Wenn das Frauenstimmrecht eingeführt wird, sollte man auch den FHD (Frauenhilfsdienst im Militär, Anmerkung der Redaktion) für alle Frauen obligatorisch erklären. Das Frauenstimmrecht bringt nur mehr Auslagen den Gemeinden und dem Kanton. Darum Nein.» (Frau St.)

«Wenn eine verheiratete Frau eine Erbschaft macht, ist zur Entgegennahme derselben die Unterschrift ihres Gatten nötig. Die Auszahlung der AHV erfolgt bei einem Ehepaar an den Mann. An einigen Gymnasien gilt bei Entschuldigungen von Absenzen nur die Unterschrift des Mannes. Das sind nur einige Beispiele, vielleicht extreme Fälle, aber wahr. Es existiert kein triftiger Grund, denn eine Frau ist gleich viel wert wie ein Mann und soll deshalb die gleichen Rechte haben.» (S. H.)

«Aus Erfahrung weiss ich aber, dass führende Frauen sehr gegen das Frauenstimm- und -wahlrecht kämpfen und mit Recht. Wer die Augen offen hält, sieht auch, was in anderen Kantonen für eine Stimmfaulheit herrscht, wo das Frauenstimmrecht eingeführt ist. Mit dieser bevorstehenden Abstimmung würde sich ein erzwingendes Resultat ergeben, eine Bürde der Frau aufzwingen, das die Allgemeinheit gar nicht will.» (M. E.)

«Auf uns, die nächsten Generationen, warten noch viele Aufgaben. Zum Beispiel Abwassersanierung, Kehrichtbeseitigung, Umweltschutz, Strassenbau, Bau von Altersheimen, Spitälern, Schulen und Universitäten. Warum sollen nicht auch Frauen mithelfen und mitbestimmen bei der Lösung dieser Probleme?» (kef)

«Das Interesse der Frauen an der Politik ist nur beschränkt vorhanden. Das gilt für das Ausland als auch, soweit es eingeführt ist, für das Inland. Die Frauen im Ausland müssen alle vier Jahre höchstens ein- bis dreimal an die Urne. Bei uns sind es ca. 80 Wahl- und Sachgeschäfte auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene. Haben die Frauen Zeit dafür, all diese Vorlagen zu studieren, sich an Versammlungen auf klären zu lassen, und sind sie gewillt, auch die garstigen politischen Wahlkämpfe mitzumachen? Darum Nein zum Frauenstimmrecht.» (A. K.)

«Ich habe einige Frauen und nicht wenige, das könnt ihr mir glauben, gefragt um ihre Meinung. Und ich muss sagen, fast alle haben das Gleiche erklärt, nämlich: Wo soll ich die Zeit dazu hernehmen? Ich lasse alle Argumente, die dafür sind, gelten. Aber die Hausfrau hat doch kein Interesse an der Politik.» (W. K.)

«Im letzten ‹Wohler Anzeiger› schrieb jemand: Die Hausfrau hat doch kein Interesse an der Politik. Vielen Hausfrauen, die sich nun tatsächlich dafür interessieren, wird der Ausspruch gar nicht gefallen. Nur Hausfrau zu sein heisst nicht, dass man sich überhaupt nicht für etwas Anderes interessieren kann.» (Auch eine Hausfrau)

«Bereits bei beruflich engagierten Frauen leidet die Familie unter Verwahrlosung, wie viel schlimmer wird es werden, wenn sich die Frau auch noch für die Politik einsetzen muss und damit drei Herren gleichzeitig dient? All diese Pflichten übersteigen das physische und psychische Leistungsvermögen der Frau bei weitem und treiben sie zum Ruin. In Anbetracht dieses Tatsache sollte sich die Frau ihrer gefährlichen Überheblichkeit endlich bewusst werden. (Frau M. Zwicky-Abt)

«Ohne Zweifel gibt es viele Frauen, die mehr praktisches Urteilsvermögen haben als mancher Mann. Meine Frau zum Beispiel, die ein Universitätsstudium absolviert hat, hilft mir in meinem Beruf, interessiert sich brennend für Politik und ist oft besser im Bilde als viele Männer. Trotzdem will sie, wie die meisten Frauen, das Stimm- und Wahlrecht nicht.» (R. B.)

«Es wird in letzter Zeit so viel unternommen von den Frauen zur Verweiblichung unserer Männer, so dass es sicher Zeit wäre, dass die noch wirklichen Männer sich wehren müssen. Warum müssen in allen Ämtern Fräulein sein? Wir haben heute noch sehr gescheite, intelligente und junge Männer, die unser Vertrauen verdienen.» (Eine Mutter und Hausfrau)

«Mit dem Frauenstimmrecht gewinnen wir. Die Frauen ihre Rechtsgleichheit, der Staat wertvolle neue Kräfte und die Männer ein gutes Gewissen.» (K. A.)

«Wir leben heute in einer ungesunden Zeit. Schon wenige Tage nach der Heirat muss der junge Mann erleben, dass die angetraute Gattin vom Haushalt, Kochen, Waschen, Bügeln usw. gar nichts versteht. Aus Bequemlichkeit wird für das Kochen und Essen aus dem Verkaufsgeschäft Konserven und sogar fertige Menüs abgeholt und dem Mann serviert. Darum komme ich auf den Gedanken: Wenn das Frauenstimm- und -wahlrecht angenommen wird, soll auch eine Damen-Haushaltungs-Rekrutenschule strikte durchgeführt werden, wo diese Damen auch das private Kochen, Gemüserüsten, Waschen usw. selbst ausführen müssen. Dann bin ich für ein Ja.» (Eduard Strebel) --chh


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