Nur das Schöne zählt
27.10.2020 Fischbach-GöslikonHedi Böhlen ist 100 Jahre alt
Vorgestern durfte Hedi Böhlen aus Fischbach-Göslikon in engstem Familienkreis ihren 100. Geburtstag feiern. Die Jubilarin kann sich noch einer recht guten Gesundheit erfreuen und lebt, unterstützt von der Spitex, allein in ihrer ...
Hedi Böhlen ist 100 Jahre alt
Vorgestern durfte Hedi Böhlen aus Fischbach-Göslikon in engstem Familienkreis ihren 100. Geburtstag feiern. Die Jubilarin kann sich noch einer recht guten Gesundheit erfreuen und lebt, unterstützt von der Spitex, allein in ihrer Wohnung.
Sie hat sich zum Prinzip gemacht, nur das Schöne in Erinnerung zu behalten und des weniger Gute zu vergessen. «Menschen, denen es stets gut geht, werden zu Egoisten», sagt sie; am weniger Guten reife man.
Stricken ist die neue Leidenschaft von Hedi Böhlen. Sie konnte schon als Vierjährige «lisme», heute tut sie es täglich. Allein oder zusammen mit einer lieben Bekannten. --eob
Nur das Gute behalten
Hedi Böhlen feierte ihren 100. Geburtstag
Dass Hedi Böhlen im Volg in Fischbach-Göslikon einkaufen war, als dieser überfallen wurde, hat sie vergessen. Denn das Lebensmotto der 100-Jährigen lautet: Nur ans Schöne denken – und vorausschauen.
Erika Obrist
Auf dem Tisch in der Stube liegen Wollknäuel in allen Farben. Daneben ein Stapel Mützen und etliche kleine Decken. Hedi Böhlen sitzt am Tisch und strickt. «Das ist meine neue Berufung», sagt sie.
Die Frau, die letzten Sonntag ihren 100. Geburtstag feiern konnte, strickt für ein Kinderheim in Rumänien. Eine Angestellte der Spitex bringt ihr die Wolle und nimmt die fertigen Stücke mit. Sie führt auch Buch über die gestrickten Waren: Sie hält die Erzeugnisse in einem dicken Album fotografisch fest und schreibt die Anzahl der gestrickten Produkte auf. Letztes Jahr hat Hedi Böhlen 60 Kappen gestrickt, 20 Schals, 35 Paar Socken, 22 Decken und 72 kleine Kappen für Babys. Im Album findet sich auch das Bild eines Babys aus dem Kinderhaus in Rumänien: Es trägt eine gestrickte Kappe und es ist in eine gestrickte Decke gewickelt. Hedi Böhlen ist richtig stolz auf dieses Foto. Sie schenkt mit ihrem «Lisme» dem Kind Wärme. Sie tut ihm etwas Gutes.
In aller Ruhe Einkäufe eingepackt
«Von allem, was in der Vergangenheit war, denke ich immer nur an das Schöne; ich behalte nur das Gute», sagt sie. Dass ihr in Niederwil einst eine Halskette gestohlen wurde: Vergessen, denn das war etwas Böses. Dass sie im Volg in Fischbach-Göslikon war, als dieser überfallen wurde: Sie hat es aus ihren Erinnerungen gestrichen. Auf dem Video der Überwachungskamera ist jedoch zu sehen, dass sie in aller Ruhe ihre Einkäufe einpackt, während der Räuber das Personal bedroht. So erzählt es die Tochter, die in Niederwil wohnt und die beim Gespräch dabei ist. «Es liegt an mir, ob es mir gut oder schlecht geht», sagt Hedi Böhlen und lacht.
Sie lacht häufig während des Gesprächs. Obwohl sie es nicht immer leicht hatte im Leben. «Derjenige, dem es immer nur gut gegangen ist im Leben, wird zum Egoisten. Wenn es einem auch einmal nicht gut geht, wird man reifen», weiss sie aus Erfahrung.
In Schaffhausen ist sie auf die Welt gekommen. Ihr Vater starb, als sie noch klein war. Aufgewachsen ist sie bei ihren Grosseltern. «Das war mein Glück», ist sie überzeugt. Dort hat sie als junges Mädchen einen hübschen Mann kennengelernt. Bald schon, im Jahr 1941, wurde geheiratet. «Anscheinend wollte er sichergehen», lacht Hedi Böhlen. Sicher, dass ihm kein anderer die junge Frau wegschnappt. Das Paar hat an seinem Wohnort in Hittnau fünf Kinder grossgezogen. «Eines lebt leider nicht mehr.» Ihr Mann Karl ist im Jahr 1990 verstorben. Vor sieben Jahren hat sie ihre Tochter, die in Niederwil wohnt, zu sich in die Nähe geholt.
Eines Tages wartete Hedi Böhlen an der Bushaltestelle. Da hat sie eine Frau angesprochen. Diese hat nach dem Woher und Wohin gefragt. Auf dem Land kennt man halt jedes neue Gesicht. Daraus ist eine gute Bekanntschaft geworden. «Wir stricken oft zusammen bei mir», sagt Hedi Böhlen. Und plaudern und haben es gut. Seit sie nicht mehr allein nach draussen gehen kann, sind ihr auch die Gespräche mit den Angestellten der Spitex sehr wichtig. Die schauen nicht nur gut zu ihr, sondern bringen ihr auch jeden zweiten Tag eine Mahlzeit. «Davon kann ich zweimal essen.»
In kleinem Kreis gefeiert
Hedi Böhlen war zuletzt selber in der Krankenpflege tätig. Noch weit über 70-jährig hat sie gearbeitet, was sie besonders freut. Und dass sie am neuen Wohnort rasch Kontakt gefunden hat, liegt auch an ihr. Sie ging ins Turnen, ins Aquafit und an den Senioren-Mittagstisch. Gesellschaft und Geselligkeit mag sie.
Hedi Böhlen wohnt noch immer in ihrer Wohnung. Mit Unterstützung von Spitex, Mahlzeitendienst und Familie kann sie ein selbstbestimmtes Leben führen. Das Gehör hat zwar etwas nachgelassen, sehen tut sie jedoch gut. Beim Gehen dient der Rollator als Stütze. «Ich möchte 100 Jahre alt werden», habe sie sich 95-jährig als Ziel gesetzt. «Und jetzt geht es auf», freut sie sich. Gefeiert wurde am letzten Sonntag im engsten Familienkreis in Niederwil. Gestern überbrachte der Gemeinderat seine Glückwünsche und diejenigen des Aargauer Regierungsrats.
Hat man als 100-Jährige noch Ziele? «Aber ja doch», lacht Hedi Böhlen. «Ich möchte 101 Jahre alt werden.» Damit sie noch die grosse Decke sehen kann, zu der sie viele Teile strickend beisteuern wird, begründet sie lachend.


