Ernst der Lage verschlafen
21.04.2020 JonenDer Joner Joe Huber lebt seit über 30 Jahren in den USA. Er berichtet über die aktuelle Situation an seinem Wohnort in Florida. Der obersten Regierung stellt er kein gutes Zeugnis aus. Diese hätten die Gefahr einer Pandemie lange verschlafen. Er ist froh, dass die Gouverneure der ...
Der Joner Joe Huber lebt seit über 30 Jahren in den USA. Er berichtet über die aktuelle Situation an seinem Wohnort in Florida. Der obersten Regierung stellt er kein gutes Zeugnis aus. Diese hätten die Gefahr einer Pandemie lange verschlafen. Er ist froh, dass die Gouverneure der einzelnen Bundesstaaten sehr viele Kompetenzen haben und bei den Massnahmen auf ihre Region eingehen. --rwi
Fast gespenstige Ruhe
Kolumnist Joe Huber aus Jonen erlebt die Pandemie in Florida, USA
Das Leben ist auch im amerikanischen «Sonnenstaat» Florida seit einigen Wochen auf den Kopf gestellt. Joe Huber berichtet von seinem Wohnort in Fort Myers, wo er seit drei Jahren lebt, und von Kontakten nach New York.
Roger Wetli
«Meine Tankstelle, ganz in der Nähe meines Wohnortes: Sie hat 16 Zapfsäulen, die normalerweise nicht nur ständig alle besetzt sind, man muss auch noch warten, bis eine frei wird. Jetzt sehe ich manchmal kein einziges Auto dort», beschreibt Joe Huber die Situation in Fort Myers. Zum Einkaufen von Lebensmitteln wird dringend angeraten, Masken zu tragen. «Zum Glück besorgte meine Frau im letzten Herbst welche. Dies allerdings, weil in der Nähe unseres Hauses gebaut wird und deshalb viel Staub in der Luft lag. Heute sind wir sehr froh darüber.» Auch Golfspielen sei mit strengen Auflagen nach wie vor erlaubt.
Der obersten Regierung stellt Joe Huber kein gutes Zeugnis aus. «Wir müssen zugeben, dass diese die Ernsthaftigkeit der Lage verschlafen hat. Wobei das typisch Amerika ist: Man setzt sich mit dem Problem erst dann auseinander, wenn es greifbar ist.» Der Schweizer würde sehr weit vorausplanen, sei dafür weniger gut im Improvisieren. Gut findet Huber dagegen die Massnahmen seines Bundesstaates Florida. «Eine Ausgangssperre wie in New York würde hier keinen Sinn machen. Unsere Regierung geht sehr vernünftig mit der Krise und den ihr delegierten Kompetenzen um.»
Von ruhig zu sehr ruhig
Die Einschränkungen sind in Florida vergleichbar mit jenen in der Schweiz. Die Shops haben generell geschlossen, wie auch die Bars und Restaurants. Veranstaltungen sind abgesagt und das Treffen von über fünf Personen verboten. Joe Huber wohnt mit seiner Frau in einer Rentnerresidenz, einer Überbauung mit rund 2000 Wohneinheiten. «Hier leben und wohnen pensionierte Leute aus dem Norden der USA und aus Kanada. Es ist zu normalen Zeiten bereits sehr ruhig. Mittlerweile ist es aber fast gespenstig ruhig.»
Rund die Hälfte aller dort Wohnenden verbringt nur die Wintermonate in der Siedlung, der Rest permanent. Zu Letzteren gehört auch Joe Huber. «Die anderen reisen in der Regel um Ostern wieder in den Norden. Die vielen Kanadier sind aber heuer deutlich früher gegangen, da sie ihr Staatspräsident zurück in ihr Land gerufen hat.» Kanada habe jetzt auch die Grenzen zu den USA geschlossen, mit wenigen Ausnahmen.
Nicht gern gesehener Besuch
Nicht verboten sei das Reisen innerhalb der Vereinigten Staaten. «Allerdings wurde der Flugverkehr stark eingeschränkt, was bei den hiesigen riesigen Distanzen starke Auswirkungen hat.» Aus diesem Grund seien viele Amerikaner aus dem Norden jetzt in Florida geblieben. «Die Reise mit dem Auto ist schwierig. Die Hotels sind geschlossen und eine Übernachtung im Wagen nicht sicher.» Joe Huber lebte und arbeitete rund 30 Jahre in New York. Von dort benötigt man nach Fort Myers mit dem Auto zwei bis drei Tage. «Auch das ist immer noch erlaubt. Unser Gouverneur rät solchen Personen nach ihrer Ankunft in Florida zu einer Selbstquarantäne von 14 Tagen.» In seiner Siedlung wurde es nicht gerne gesehen, als einer seiner Nachbarn eines seiner Kinder samt Familie für eine Woche aufgenommen hatte, damit sich diese für eine Woche vom Wahnsinn in New York erholen konnte.
Huber pflegt rege Kontakte mit Personen aus der Weltmetropole. «Ich höre von allen das Gleiche: Es herrscht in New York eine hohe Ansteckungsgefahr. Die Spitäler befinden sich in einem desolaten Zustand. Beatmungsgeräte besitzen praktisch nur Privatspitäler.» Er zieht einen Vergleich. «In dieser City leben auf einem Dreissigstel der Fläche der Schweiz etwa gleich viele Personen. Entsprechend gut verbreitet sich das Virus.»
Es geht auch ohne Klamauk
Nichts mit der Pandemie zu tun haben allerdings die gleichzeitig angestiegenen Käufe von gewissen Typen von Schusswaffen. «Das ist ein purer Zufall», klärt Joe Huber auf. «Es geht das Gerücht um, dass der Kongress sturmgewehrartige Waffen für Private verbieten möchte. Entsprechend haben sich viele jetzt nochmals eingedeckt.» Er besuchte einen Outdoor-Shop mit riesigem Sortiment an Jagd- und Fischereiartikeln. Bereits der Parkplatz sei ungewöhnlich voll gewesen. «Neben dem Fischerbedarf war der Ansturm vor allem bei den Waffen entsprechend gross, da sie nicht nur Jagdgewehre verkaufen.»
Die Grundregeln würden in seiner Siedlung gut eingehalten. «Und falls mal nicht, patrouilliert ein Aufseher, der freundlich darauf hinweist», so Huber. Auch beim Strand, der 20 Kilometer von seinem Haus entfernt liegt, werden die Abstandsregeln kontrolliert. Derweil wird weiterhin in der Siedlung gebaut.
Nach aussen sei alles ruhig, die Stimmung okay. «Über mehrere Monate kann ich mir diesen Zustand aber nicht vorstellen. Der Amerikaner hat einen grossen Drang nach Freiheit. Der trägt die Massnahmen mit, aber nicht zu lange.» Die Leute seien hier generell sehr freundlich und nett. Diese Eigenschaften hätten sich jetzt gar noch verstärkt. «Alle bieten Hilfe an. Und sie merken, dass es auch ohne den ganzen üblichen Klamauk geht.»
Erstaunt ist Joe Huber über die Aussage eines Nachbarn, den er als typischen stolzen amerikanischen Patrioten bezeichnet. Diese lautet: «Wir sind verwöhnt. Die aktuelle Situation ist ein Weckruf, dass wir wieder normaler werden sollten.» Der ausgewanderte Joner sieht dagegen ein anderes Klischee der dortigen Mentalität bestätigt: «Man hält hier zusammen, wenn man bedroht wird.»
Sorgen um die Wirtschaft
Joe Huber wäre traditionell über Ostern in die Schweiz gereist. Das war jetzt nicht möglich. «Ich telefoniere dafür öfter mit meinen Geschwistern. Sie sind sehr interessiert, wie es mir in der aktuellen Situation in Amerika geht, und mich nimmt natürlich wunder, wie es in meinem Heimatland und speziell im Kelleramt zu und her geht.» Er wünscht sich, dass sich die Bekämpfung der Pandemie auf die Grossstädte konzentriert. Ausserhalb dieser sei das Land sehr schwach besiedelt. «Ich hoffe, dass die Politiker die richtige Balance zwischen dem Schutz der Leute und der Wirtschaft finden.»
Er macht sich grosse Sorge um die Jobs der Menschen. In einem Land, in dem Einstellungen und Entlassungen sehr schnell möglich sind, ist die Arbeitslosenzahl seit Februar von 3,5 auf 13 Prozent gestiegen. «Der vorherige Rekord, seit ich in den USA wohne, lag 2009 bei 9,80 Prozent. Somit sind wir heute bei einem Rekord, wie es ihn zuletzt in den 1920er-Jahren während der damaligen Wirtschaftskrise gab», so Huber. «Die Amerikaner sind traditionell hoch verschuldet. Viele werden jetzt ihre Raten und Zinsen nicht mehr bezahlen können.»
Zahlungssstopp an WHO warf keine grossen Wellen
Dagegen wirkt eine weitere Einschränkung eher unwichtig. «Durch den reduzierten Flugverkehr braucht die Flugpost jetzt um einiges länger als sonst. Dies betrifft auch diejenige innerhalb von Amerika. Briefe und Zeitschriften aus der Schweiz benötigen gar mehrere Wochen.»
Keine grossen Wellen warf in den USA der Zahlungsstopp an die Weltgesundheitsorganisation. «Unser Präsident fühlt sich durch sie nicht gut behandelt. So lange er keine Antworten auf gewisse Fragen hat, gibt er kein Geld mehr», erklärt Joe Huber. «Ich verstehe diese Argumentation.» Donald Trump will das Land per 1. Mai wieder öffnen. Wie die verschiedenen Staaten das handhaben, überlässt er aber den jeweiligen Gouverneuren. «Auch das entspricht den grossen Freiheiten, die diese geniessen. Jeweils angepasste Massnahmen sind sinnvoll, da sich die Staaten zum Teil stark voneinander unterscheiden.»