Unfassbares in Worte fassen
17.03.2020 Wohlen«Leben, was geht!»: Vernissage in der Kanti zum Thema Suizid
Ein Jahr lang hat Martin Steiner seine Ausstellung vorbereitet und sich dem Thema Suizid auf sehr einfühlsame und vielfältige Weise angenähert. Doch der Zeitpunkt für die Vernissage ...
«Leben, was geht!»: Vernissage in der Kanti zum Thema Suizid
Ein Jahr lang hat Martin Steiner seine Ausstellung vorbereitet und sich dem Thema Suizid auf sehr einfühlsame und vielfältige Weise angenähert. Doch der Zeitpunkt für die Vernissage konnte kaum schlechter sein. Während die Schweiz quasi stillsteht, mag sich kaum jemand mit dieser Problematik beschäftigen.
Chregi Hansen
Findet sie statt oder nicht? Am Tag, nachdem der Bundesrat seine drastischen Massnahmen wegen des Coronavirus bekannt gegeben hat, war die Verunsicherung bei Teilnehmern und Besuchern gleichermassen gross. Die Schule, das Kantiforum sowie Martin Steiner entschlossen sich, den Anlass dennoch durchzuführen. Aber die Teilnehmerzahl auf maximal 50 Personen zu begrenzen. Diese Grenze wurde problemlos eingehalten – der grosse Andrang blieb an diesem Tag aus.
Berührungsängste spürbar
Und das ist schade. Zum einen für Steiner, der viel Arbeit in dieses Projekt gesteckt hat. Vor allem aber auch für die Personen, die sich als «Living Books» zur Verfügung stellten. Die also bereit waren, über ihre Erfahrungen und Gefühle zu sprechen. Die meisten warteten umsonst auf einen Gesprächspartner. Die wenigen Besucher, welche tatsächlich den Weg in die Kanti fanden, begnügten sich meistens mit dem Studieren der Stellwände und dem Hören der Podcasts. Das Vieraugengespräch mit einem Betroffenen hingegen blieb die Ausnahme. Die Absicht, Berührungsängste abzubauen und endlich über ein Tabuthema zu sprechen, wurde so ad absurdum geführt.
20 Betroffene, von Angehörigen über Ärzte, Psychologen, Pfarrer und weitere Experten, hatten sich im Vorfeld mit Steiner getroffen und über ihre Erlebnisse gesprochen. Der Grossteil von ihnen war an der Vernissage anwesend. Zum Beispiel Fabienne Meyer, die ihren Vater durch einen Suizid verloren hat. «Ich bin selber gespannt, was mit mir heute passiert und wie es mir danach geht», sagt sie vor der Vernissage. Sie findet es aber wichtig, dass sie über das Thema reden kann und dass es sogar eine Ausstellung dazu gibt. Angst vor den Gesprächen hat sie nicht. «Wer hierherkommt, hat sich schon mit dem Thema beschäftigt», sagt sie.
Von Exit und Care-Team
Auch Erna Köchli war gekommen – und wartete umsonst auf Gesprächspartner. Ihr Mann hat sich entschieden, mit Exit aus dem Leben zu scheiden. «Wir haben sehr oft und sehr lange darüber diskutiert», erklärt sie. Ihr Mann war schwer an Krebs erkrankt und hat sich entschieden, sich nicht mehr behandeln zu lassen. Man soll den Wunsch der Betroffenen respektieren, findet Köchli. Umgekehrt sei es wichtig, dass der Betroffene noch selber entscheide und das nicht den Angehörigen überlässt. «Wir haben versucht, das Leben noch zu geniessen, so gut es noch möglich war», erzählt sie. Im Podcast, den man auf der Homepage abrufen kann, erzählt sie eindrücklich, wie er sich bei allen bedankt hat, bevor er dann freiwillig aus dem Leben schied.
Die Auswahl der Personen, die bereit waren, über das Thema zu sprechen, war riesig. Mit dabei war auch Martin Schaufelberger, der frühere reformierte Pfarrer von Wohlen, der als Vertreter des Care-Teams meist dann zum Einsatz kommt, wenn Sanitäter und Polizei das Haus wieder verlassen und die Angehörigen allein sind und Hilfe brauchen. «Es ist immer wieder ein schwieriger Moment, in den wir hineinkommen», berichtet er. Wichtig sei zu schauen, wen oder was die Personen jetzt benötigen, und ihnen auch einen Schutz vor der Neugier anderer zu bieten.
Feingefühl bewiesen
Die Statements der Betroffenen stehen im Mittelpunkt der Ausstellung. Aber dazu kommt viel mehr. Viele Informationen rund um das Thema, viele Zahlen, aber beispielsweise auch Aussagen der verschiedenen Religionen zum Selbstmord. Vieles lässt sich auf dem Rundgang entdecken. Das Ganze ist feinfühlig arrangiert mit vielen Möglichkeiten, sich zurückzuziehen, sich mit einem Aspekt zu beschäftigen. Dabei wird einem deutlich vor Augen geführt, wie sehr ein Suizid auf das Umfeld einwirkt. «Die schrecklichen Bilder bleiben in meiner Seele haften», lässt sich etwa ein Polizist zitieren. Und ein Lokführer erklärt, dass man nach einem solchen Vorfall anders unterwegs ist. «Die Erinnerung fährt immer mit. Man reagiert schreckhafter gegenüber Personen in Gleisnähe», sagt er.
Froh um diese Ausstellung ist auch Christine Hegi, Teamleiterin der «Dargebotenen Hand 143». «Der 14. 3. ist der Tag des Zuhörens. Dass die Vernissage heute stattfindet, passt darum bestens», sagt sie. Denn das Zuhören sei wichtig in unserer Gesellschaft und genau das, was ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen tun. «Indem Probleme angesprochen werden, lassen sie sich vielleicht lösen», so Hegi weiter. Sie ist Martin Steiner dafür dankbar, dass er sich an dieses Thema gewagt hat. «Das braucht Mut», findet sie.
Dem Ausstellungsmacher selber geht es darum, eigentlich Unfassbares in Worte zu fassen. Was löst Suizid aus? Welche Antworten findet man darauf? «Ich will mit dieser Ausstellung Raum bieten zum Denken, Reden und Reflektieren», sagt er. Suizid sei heute nach wie vor für viele ein Tabuthema, über das man nicht gerne spricht. «Indem wir mit den Betroffenen reden, durchbrechen wir diese Sprachlosigkeit», sagt Steiner. Durch die Verwendung von künstlerischen Installationen von Livia Müller und Jessica Bucher sowie einigen interaktiven Elementen wird die Ausstellung zusätzlich bereichert.
Vorerst offen, aber wie lange?
Wie lange die Ausstellung noch geöffnet ist, bleibt angesichts der aktuellen Situation ungewiss. Vorgesehen ist, dass der Rundgang noch bis Donnerstag zugänglich bleibt – allerdings ohne Teilnahme der «Living Books». Angemeldet waren ursprünglich auch verschiedene Klassen, nach der Schliessung der Schulen fällt dies nun weg. Steiner hofft darum, dass die verschiedenen Elemente der Ausstellung vielleicht später an anderen Orten gezeigt werden können. Wenn die Zeit passender ist und nicht alle nur von Corona reden.
Mehr Informationen zur Ausstellung und zum Thema selber findet man auf https:// leben-was-geht.ch. Hier gibt es auch alle Podcasts zum Nachhören.




