Der erste Sprayer von Wohlen
16.07.2019 Wohlen«Zeitzeugen»: Bruno Widmer wehrte sich 1979 gegen den Abbruch des alten Gemeindehauses
Das alte Haus hat die Gemüter in der Gemeinde erhitzt. Gleich zweimal mussten die Stimmbürger über den Erhalt entscheiden. «Schämt euch», sprayte ...
«Zeitzeugen»: Bruno Widmer wehrte sich 1979 gegen den Abbruch des alten Gemeindehauses
Das alte Haus hat die Gemüter in der Gemeinde erhitzt. Gleich zweimal mussten die Stimmbürger über den Erhalt entscheiden. «Schämt euch», sprayte Bruno Widmer kurz vor dem Abriss auf die Fassade. Und genau das taten damals viele Wohler. Einige tun es heute noch.
Chregi Hansen
«Die Zukunft wird zeigen, ob sich der Abriss gelohnt hat oder nicht. Und ob der geplante Park inmitten von Abgasen die herausgerissene Lücke in einer Ortsbildgruppe zu schliessen vermag», schrieb der «Wohler Anzeiger» vom 6. Juli 1979. Die nach genau 40 Jahren noch immer bestehende Lücke beweist, dass der Entscheid voreilig war. In all den Jahren war der Park nie ein Park – wer sich auf das Bänkli wagt, welches da steht, wird als Exot betrachtet.
«Wenn ich heute an dieser Stelle vorbeigehe, dann kommt alles wieder hoch», erzählt Bruno Widmer. Der frühere Bäcker und Konditor und Inhaber des Cafés Widmer gehörte vor 40 Jahren zu den Gegnern eines Abbruchs. Noch 1969 feierte er die Hochzeit im alten Gemeindehaus. «Es war ein schönes und ehrwürdiges Haus und noch in gutem Zustand. Danach hat man das Gebäude leider immer mehr verlottern lassen», bedauert Widmer.
Der Freizeitverein hatte viele Feinde
Der Abriss sei auch ein politischer Entscheid, ist er überzeugt. Denn das alte Gemeindehaus war in den 70er-Jahren Heimat des Freizeitvereins, dem Vorläufer des heutigen Vereins für Jugend und Freizeit (VJF). Und dessen Mitglieder wurden gerne im politisch linken Lager verortet. Widmer selber war nicht aktiv im Verein. «Aber der Vorstand hat sich oft in meinem Café zu Sitzungen getroffen. Und der Verein hat viele tolle Anlässe organisiert», berichtet er. Dadurch ergab sich eine gewisse Verbundenheit. Aber beim Widerstand gegen den Abriss ging es nicht einfach um den Freizeitverein. Es war ein Widerstand gegen die Tendenz, geschichtsträchtige Häuser dem Erdboden gleichzumachen. «In Wohlen sind viele schöne Gebäude einfach verschwunden», bedauert Widmer.
Das alte Gemeindehaus, es könnte manche Geschichte erzählen. Schliesslich war es das erste Schulhaus des Dorfes und wurde 1810 in Fronarbeit gebaut. Von 1854 bis 1971 diente es dann als Gemeindehaus. Die Lage war schon immer besonders, sozusagen mitten in einer Kreuzung, umgeben von Strassen. Im März 1977 wurde eine Initiative eingereicht, welche den Abbruch verlangte. Dagegen formierte sich ein Aktionskomitee. Es brauchte zwei Abstimmungen und mehr als zwei Jahre, bis das Urteil gefällt und der Abriss beschlossen war.
Dann schritt Bruno Widmer zur Tat. Die Abbrucharbeiten waren für den Tag nach dem Jugendfest terminiert. In der Nacht vor dem Fest packte der Bäcker die Sprühdose ein und schrieb «Wohler, schämt euch» auf die Fassade. «Ich habe nicht gross nachgedacht. Es war mir einfach ein Bedürfnis, ein Zeichen zu setzen», sagt er heute. Der Gemeindeammann habe getobt am nächsten Tag und verlangt, dass der Schriftzug während des Jugendfestes abgedeckt wird. «Natürlich haben wir dafür gesorgt, dass die Abdeckung immer wieder entfernt wurde», lacht Widmer. Und so feierten die Wohler an diesem Wochenende mit freiem Blick auf den Schriftzug. Und Widmer ist überzeugt, dass die Botschaft ankam.
Einige Kunden verloren
Geändert hat es nichts. Drei Tage später begann der Abbruch. «Ich war den ganzen Tag vor Ort und habe viele Fotos gemacht. Später habe ich diese in meinem Café ausgestellt», erzählt Widmer. Nicht alle haben sein Engagement geschätzt, es gab auch Wohler, die von da an einen Bogen um sein Geschäft machten. «Befürworter und Gegner waren total zerstritten in dieser Zeit.» Ein Jahr später legten Widmer und einige Freunde einen symbolischen Kranz an der Stelle nieder, wo das Gebäude einst stand. «Es ist doch verrückt. Man hat versprochen, dass man einen gefälligen Platz gestalten will und die Verkehrssituation sich bessere. Nichts davon ist eingetroffen», so die Kritik des ersten Wohler Sprayers.
Für Umdenken gesorgt
Dass er für den berühmten Schriftzug verantwortlich war, das wussten damals nur wenige. «Es gab später immer wieder lustige Momente, wenn ich davon erzählt habe», lacht Widmer. Er steht zu seiner Aktion. Und ist überzeugt, dass sie etwas bewirkt hat. «Nach diesem Abriss gab es ein Umdenken. Heute geht Wohlen mit alten Gebäuden anders um», sagt er. Für das alte Gemeindehaus kam dieses Umdenken zu spät. Noch immer ist die Situation auf der Parzelle nicht gelöst.
Umgestaltung geplant
Immerhin, es gibt Pläne für eine Neugestaltung», wie Gemeindeammann Arsène Perroud erklärt. «Der Platz ist Bestandteil des Betriebs- und Gestaltungskonzepts Zentralstrasse. Im Rahmen der Erarbeitung des Bauprojekts seitens des Kantons wird die Gestaltung und Optimierung des Knotens definitiv festgelegt», so Perroud. Im Zuge der Neugestaltung wird ein neuer, terrassenartiger Platz zwischen der Bremgartenstrasse und der Zentralstrasse angelegt. Er soll von einer niedrigen Betonmauer umfasst werden und einen Kiesbelag erhalten. Vier Linden sollen das Thema der damaligen Dorflinde wieder aufnehmen und geben – wie früher das Gemeindehaus – der Platzmitte das nötige Volumen. «Die Erarbeitung des entsprechenden Bauprojekts findet im laufenden Jahr statt, der Abschluss soll nächstes Jahr erfolgen», sagt der Gemeindeammann.
Serie «Zeitzeugen»
Es gibt Ereignisse in der Region, von denen die Leute nach Jahrzehnten noch erzählen. In der Serie «Zeitzeugen» blicken Menschen auf ein Ereignis zurück, bei dem sie hautnah dabei waren.
Bisher erschienen: Der Empfang für Abfahrtsweltmeister Urs Lehmann in Rudolfstetten im Februar 1993 (Ausgabe 55).



