Zwischen Vernunft und Emotion
29.12.2023 BremgartenBesondere Momente im Redaktionsalltag: Berichten über Lädelisterben
Oft wollen sie zuerst gar nicht. Oder sie sind zumindest hin- und hergerissen. Ja, man müsste es den Menschen da draussen ja eigentlich sagen. Und doch – es fällt schwer. Über das ...
Besondere Momente im Redaktionsalltag: Berichten über Lädelisterben
Oft wollen sie zuerst gar nicht. Oder sie sind zumindest hin- und hergerissen. Ja, man müsste es den Menschen da draussen ja eigentlich sagen. Und doch – es fällt schwer. Über das öffentlich Auskunft zu geben, was man monatelang hoffte, vermeiden zu können.
Marco Huwyler
Viele bitten zuerst um Bedenkzeit. Wenn sie sich dann doch öffnen, weicht die anfängliche Scheu und Skepsis zumeist schnell einem Redeschwall. Schliesslich hat man viel zu erzählen. Nicht bloss die zahlreichen Fakten einer Unternehmensgeschichte, die nun ihr Ende findet – es ist auch viel emotionaler Ballast, der angefallen ist. Auskunft geben kann auch eine Gelegenheit sein, die Seele auszuschütten.
Ein Balanceakt
Ich gehe jeweils mit viel Respekt an solche Gespräche. Weil ich mir bewusst bin, was der Moment für die Betroffenen bedeutet. Wie immer ist man zuallererst als aufmerksamer Zuhörer gefragt, der zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Fragen zu stellen weiss. Aber auch Einfühlungsvermögen und Taktgefühl im Umgang mit Emotionen sind angebracht, wenn Betriebe schliessen, die mit Herzblut geführt wurden. Es ist förmlich zu spüren, wie die Betroffenen in ihren Ausführungen zwischen Rationalität und Emotionen schwanken. Es ist auch an mir, ihnen zu helfen, diesen rhetorischen Balanceakt zu meistern, die Geschichte zu kanalisieren und die richtigen Worte dafür zu finden.
Geschichten in Geschichten
Dann, nach dem Gespräch, wird die Herausforderung nicht kleiner. Nun gilt es, das Gehörte zu Papier zu bringen. Schon aufgrund der schieren Fülle an Informationen keine leichte Sache. Betriebsgeschichte, jüngere Vergangenheit (und damit zumeist auch die eigentliche Begründung für das jetzige Ende), persönlicher Werdegang der Protagonisten, Bedeutung des Geschäfts in der Region – alles an sich Geschichten für sich selbst, die man auch einzeln erzählen könnte.
Dem Lebenswerk gerecht werden
Das zu einem stimmigen Ganzen zu verpacken, gleicht dem Bewältigen eines riesigen Puzzles. Wobei es anders als dort nicht die eine richtige Variante gibt. Vor dem Zusammensetzen dieser Teilchen setze ich mich zuweilen selbst ganz schön unter Druck. Schliesslich gilt es zumeist nichts weniger als einem Lebenswerk gerecht zu werden. Und natürlich der emotionalen Verfassung desjenigen, der dieses nun aufzugeben hat.
In diesem Jahr haben sich solche Artikel für mich gehäuft. Gerade in den letzten Wochen und Monaten sind im Städtli, über das ich hauptsächlich schreibe, einige Betriebe eingegangen oder wurden übergeben – viele von ihnen nach jahrzehntelanger Tradition und Kontinuität. Einen einzelnen herauszupicken, fiele schwer.
Wie geht es weiter?
Da wäre zum Beispiel der Städtlimärt, das letzte Detailhandel-Lebensmittellädeli in der Altstadt. Oder der «Stadtkeller», in dem nach 126 Jahren Familie Schaufelbühl künftig indisch gewirtet wird. Immerhin fand sich dort eine valable Nachfolge. So viel Glück hatten nicht alle. Etwa nicht das Bäckerpaar Schwager, auf dessen Pension auch das Ende des Ladens folgt. Nach über 200 Jahren verliert die Marktgasse damit ihre letzte Bäckerei. Dennoch verlassen die beiden ihre Backstube auch mit einem lachenden Auge. Weil sie sich auch sehr freuen auf das, was nun kommt. Ihre wohlverdiente Pension.
Ganz anders geht es Sandra Furrer, der bisherigen Inhaberin der Wundertüte. Mit bloss 43 Jahren ist die Inhaberin des Bücher- und Spielwarengeschäfts noch viel zu jung für die Rente. Was nun auf die aus wirtschaftlichen Gründen erfolgte Schliessung für sie folgt, ist noch ungewiss. Genauso wie für Städtli-Shop-Inhaberin Dorit Hartmann, die ihr Kleiderlädeli in der Altstadt allzu gerne noch eine Weile weiterbetrieben hätte.
Begegnungen, die haften bleiben
Es sind dies nur einige Beispiele von Momenten des emotionalen Abschieds von Bremgarter Kleinbetrieben, die mir in Erinnerung bleiben. Oft denke ich daran zurück, frage mich, wie es den Menschen dahinter heute wohl geht und wie ihre Gegenwart und Zukunft aussehen mag. Immer in der Hoffnung, dass sie woanders wieder eine erfüllende und sinnstiftende Lebensaufgabe gefunden haben oder noch finden werden. Und in der Hoffnung nächstes Jahr nicht mehr so viele solcher Geschichten erzählen zu müssen.