Sein Blick geht nach oben
31.12.2024 SportMenschen mit einem besonderem Jahr: Ein Besuch beim Freiämter Marvin Keller, dem grössten Goalie-Talent des Landes
Das Jahr 2024 war ein besonderes für Marvin Keller. Und es war alles dabei. Auf der einen Seite die Glanzsaison mit Winterthur, das Aufgebot für die A-Nati und glorreiche Einsätze in der Champions League mit den Young Boys. Auf der anderen Seite die verpasste U21-EM und die Ersatzbank. Wie gehts weiter? «Ich bin selbst gespannt», sagt der Beriker.
Stefan Sprenger
«Hier ist Frieden», sagt Marvin Keller. Er sitzt in einem charmanten umgebauten Bauernhaus in Berikon und zeigt mit der Hand aus dem Fenster. Grüne Wiese, soweit das Auge reicht. Der Wald ist nah. «Wir sind toll aufgewachsen», sagt er. Sein Vater Martin ist auf dem Mutschellen gross geworden, seine Mutter Manuela stammt aus Wettingen. Mittlerweile sind sie geschieden. Ihr Zuhause in Berikon ist ein Traumhaus für die sechsköpfige Familie, die durch einen jüngeren Bruder und zwei ältere Schwestern komplettiert wird. Auch wenn er mittlerweile immer seltener dort ist, so geniesst er die Zeit immer sehr. Erstens, weil er ein sehr enges Verhältnis zur Familie pflegt, und andererseits wegen dem Ort. «Alles ist ruhiger, entspannter und fühlt sich nach Heimat an. Hier kann ich etwas runterfahren.»
Teil der A-Nati: «Eine tolle Erfahrung»
Im Jahr 2024 war ihm ein sicherer Hafen wichtig. Vielleicht sogar etwas wichtiger als sonst. Denn das abgelaufene Jahr war turbulent. Meist positiv. Die Rückrunde mit dem FC Winterthur war sensationell. Am Ende erreicht «Winti» den 6. Rang. Leih-Goalie Marvin Keller zeigt aussergewöhnliche Leistungen, erntet von Experten viele Lorbeeren, wird gar Publikumsliebling auf der «Schützi». Und es heisst in Fachkreisen, dass er einen grossen Anteil an diesem Erfolg hat. «Diese Zeit bei Winterthur hat richtig Spass gemacht und war wichtig für meine Entwicklung», sagt er.
Keller, der auf Leihbasis in Winterthur spielt, kehrt im Sommer zu den Young Boys nach Bern zurück. Und dort erlebt er zuerst weitere Höhenflüge. Erst wird er von Trainer Murat Yakin in den provisorischen Kader der A-Nati berufen, ist am Anfang Teil der Vorbereitungen auf die Europameisterschaft. Keller dufte Nati-Luft schnuppern und meint: «Eine tolle Erfahrung.»
Gegen Barcelona: «Ein Riesenerlebnis»
Auch im Verein ist er gefragt. YB-Stammgoalie David von Ballmoos verletzt sich und Marvin Keller darf in der Champions-League-Qualifikation gegen Galatasaray Istanbul ran. Es geht um den Einzug in die Gruppenphase, um viel Geld, viel Prestige, für YB, für den ganzen Schweizer Fussball. Es ist wohl eines der wichtigsten Spiele der ganzen Saison. Und Keller liefert eine Topleistung ab. 47 000 heissblütige türkische Fans sind im Ali-Sami-Yen-Stadion dabei, YB gewinnt 1:0, zieht in die Königsklasse ein. Keller überzeugt mit Ruhe, zeigt wichtigen Paraden und wird erneut mit Lob überschüttet. Im Oktober steht er auch gegen Barcelona im Tor. 46 000 Fans, 0:5-Niederlage. «In internationalen Spielen weht ein anderer Wind. Auch wenn es sportlich nicht erfolgreich war, so wars ein Riesenerlebnis.»
Die Spiele in der Champions League steigern auch seinen Bekanntheitsgrad. «Das merkte meine Familie etwas mehr», meint er lachend. «Aus der Region gab es viele Reaktionen.» Sein Bruder Norman, der genau wie einst er die Kreisschule Mutschellen besucht, erhielt Gratulationen. Und auch seine Mutter wurde oft angesprochen auf den bekannten Sohn, der als Profifussballer auf der ganz grossen Bühne zu sehen ist. «Das macht stolz, wenn die Menschen Freude haben», sagt der 22-Jährige.
Auf dem Platz überzeugt er mit seiner Ruhe, seinen Reflexen, seiner Technik am Ball. Beim Gespräch in seinem Zuhause überzeugt Keller durch seine menschliche Art. Er wirkt bodenständig, souverän und durchdacht. Er erzählt, dass er über Weihnachten im Urlaub war, in Dubai und Abu Dhabi. «Wie so viele Fussballer», wie er lachend anfügt. Er wollte etwas Sonne tanken und abschalten. Einfach weg. «Die letzten Monate waren intensiv, zeitweise auch schwierig. Da tut es gut, den Kopf zu lüften.»
Bei YB erlebt er einen höheren Rhythmus als beim FC Wil, wo er in der Saison 2021/22 zum Challenge-League-Goalie reift. Und bei YB ist es auch anders als zuletzt bei Winterthur.
YB im Sinkflug: «Keine Ausreden suchen»
Er hat während den Feiertagen einen Trainingsplan, achtet auf seine Ernährung, geht jeden Tag um 23 Uhr schlafen und steht jeden Tag um 8 Uhr auf. «Rituale, die wichtig geworden sind, um körperlich topfit zu sein», nennt er dies. Aber nicht nur das Drumherum ist bei YB intensiver, sondern auch die Erwartungshaltung. «YB ist Meister, ein Top-Klub, der international spielt. Besser geht es nicht in der Schweiz. Dort muss man in der Super League gewinnen.»
Und wenn es nicht läuft und es Niederlagen gibt, dann steigt der Druck. Und das erlebten er und die Young Boys in den letzten Monaten. In 18 Spielen der Vorrunde gab es nur sechs Siege. Mit 23 Punkten steht YB auf dem 9. Rang. Der Schweizer Meister im Sinkflug. Eine Erklärung dafür: Es gab aussergewöhnlich viele verletzte Spieler. «Fast jeder Verteidiger ist ausgefallen», sagt Keller und fügt an: «Wir wollen keine Ausreden suchen, aber es ist in den letzten Monaten nicht viel für uns gelaufen.» Auf und auch neben dem Platz. Vor wenigen Wochen starb der Sohn von YB-Offensivspieler Meschack Elia. «Schrecklich. Das war ein Schock für uns alle», sagt Keller, dessen Gesichtszüge erahnen lassen, wie schwierig dies für ihn und den ganzen Verein war.
Kann YB noch Meister werden? «Warum nicht?»
Keller meint: «Nun kann es nur noch besser werden.» Nebst der schwachen Vorrunde mit YB erlebte er als Goalie der U21-Nati eine Enttäuschung, alsdas Team die U21-Europameisterschaft verpasste. Dennoch: Er geht optimistisch ins neue Jahr. «Wir wollen bei YB Konstanz reinbringen, müssen defensiv stabiler werden. Wir wollen in der Rückrunde angreifen. Nach schwierigen Monaten packen wir diese Aufgaben nun positiv an.» Der Rückstand auf Leader Lugano beträgt acht Punkte. Können die Young Boys noch Schweizer Meister werden? Keller sagt, ohne zu zögern: «Warum nicht? Es ist möglich. Wir tun alles dafür.»
Ob er im Tor steht? Keller kann (oder will) sich nicht gross dazu äussern. Als er im Sommer aus Winterthur zurückbeordert wurde, zeigte er in den internationalen Spielen Topleistungen. In den Medien wurde daraufhin eine Goalie-Diskussion entfacht. Auch weil der damalige Trainer Patrick Rahmen dem 22-Jährigen vertraut und ihn schätzt. Es ist gut möglich, dass Marvin Keller bei einem normalen Saisonverlauf schleichend zur Nummer 1 geworden wäre und er YB-Legende David von Ballmoos als Nummer 1 abgelöst hätte.
Neuer Trainer, neue Chance
Aber es kam anders. YB spielt eine schwache Vorrunde, Anfang Oktober wird Trainer Rahmen entlassen. Interims-Nachfolger Joël Magnin erklärt von Ballmoos zur unumstrittenen Nummer 1. Ein wohl üblicher Trainerreflex in sportlich schwierigen Zeiten. Erfahrung vor Talent. Nach den Champions-League-Einsätzen absolviert Keller nur ein Spiel in der Super League, darf zwei Mal im Cup ran. Sonst: Ersatzbank. «Das gehört zum Profi-Business dazu», sagt er diplomatisch.
Für seine Ansprüche, sein Talent und seine Ziele «ist die Ersatzbank zu wenig», wie er sagt. «Ich will spielen.» Und nun wurden die Karten neu gemischt. Giorgio Contini ist seit wenigen Tagen neuer Trainer der Young Boys. «Ich gebe Gas. Ich mache meinen Job bestmöglich. Und wenn ich die Chance erhalte, dann will ich sie nutzen», sagt Keller.
Beraterwechsel und Traum vom Ausland
Keller hat nach seinen Auftritten in der Champions League auch das Interesse von ausländischen Klubs auf sich gezogen. Bei YB hat er einen Vertrag bis 2027 – genau wie David von Ballmoos. Und es ist klar, dass Keller einmal im Ausland spielen möchte. «Das ist ein Traum von mir», sagt er. Und das nötige Rüstzeug besitzt er für eine ganz grosse Karriere.
Spannend: Keller wechselte jüngst den Spielerberater, wird neu vom deutschen Topagenten Volker Struth vertreten. Strebt Keller einen Wechsel an? Er sagt: «Ich mache seit Jahren meine Schritte im Profifussball und stehe trotzdem immer noch am Anfang. Ich träume von grossen Dingen, aber jetzt zählt nur die Rückrunde mit YB und dass diese erfolgreich wird.» Auch hier zeigt er sich souverän und wählt seine Worte durchdacht. Es gefällt ihm bei YB, «grundsätzlich». Aber wenn er nicht spielt, muss er im Sommer weiterschauen. Auch er weiss: Im Profifussball kann es schnell gehen. Sein Jahr 2024 hat eindrücklich gezeigt, wie schnell sich Erfolg und Rückschläge manchmal abwechseln.
Was nicht wechselt, ist seine Heimat, seine Familie. Als er sechs Jahre alt war, kaufte ihm sein Vater Torwart-Handschuhe und lancierte so eine bislang steile Karriere. Angefangen beim FC Mutschellen steht er nun vor einer möglichen grossen Laufbahn. Keller, der sich selbst als «kein Partytiger» bezeichnet und keine Freundin hat, tut alles für seinen Erfolg. Sein ganzes Leben ist auf den Profisport ausgerichtet. Schon seit Jahren, als er bei der «United School of Sports» (vom Wohler Direktor Tobias Rohner) seine Ausbildung machte – bis heute. «Ich bin glücklich, wie mein Leben ist», sagt er.
Wie wird das Jahr 2025? Keller meint auf seinen Verein YB bezogen: «Positiv. Frischer Wind. Ich glaube, das kommt gut.» Und auf ihn persönlich – wo treibt ihn das neue Jahr hin? Gibt es weitere Höhenflüge oder versauert er auf der Ersatzbank? Es wäre ein goldener Käfig für das grösste Goalie-Talent des Landes. Keller hechtet sich zu diplomatischen und ehrlichen Worten und sagt: «Ich bin selbst gespannt, wie es weitergeht.» Sein Blick ist aber nach oben gerichtet.