Riesiges Glück im grossen Unglück
11.08.2023 BremgartenAngst hatte sie nie
Regula Wohler verunfallte in Bolivien schwer
Es ist eine Horrorvorstellung: ein schlimmer Unfall am anderen Ende der Welt. Regula Wohler aus Bremgarten hat genau dies erlebt. Und doch hatte sie nie Angst. Denn Bolivien ist für sie ...
Angst hatte sie nie
Regula Wohler verunfallte in Bolivien schwer
Es ist eine Horrorvorstellung: ein schlimmer Unfall am anderen Ende der Welt. Regula Wohler aus Bremgarten hat genau dies erlebt. Und doch hatte sie nie Angst. Denn Bolivien ist für sie wie eine zweite Heimat. Vor 14Jahren absolvierte sie dort ein Sozialjahr, seither ist der Kontakt zu ihrer «Herzensfamilie» immer aufrecht geblieben. Nun schlug bei einem Besuch das Schicksal zu und Wohler verletzte sich an drei Rückenwirbeln, zwei fünfstündige Operationen waren nötig. --ake
Regula Wohler reiste für drei Monate nach Bolivien und erlebte dort einen schrecklichen Unfall
Vor 14 Jahren fand Regula Wohler in Bolivien eine zweite Heimat. Während eines Sozialjahres lernte sie Land und Leute kennen und «meine Herzensfamilie». Während drei Monaten besuchte sie diese nun in Santa Cruz. Der Aufenthalt wurde anders und länger als geplant. Ein hundert Kilogramm schweres Tor fiel auf die zierliche Frau.
Annemarie Keusch
Sie kann sich an jeden einzelnen Moment erinnern. An jenen, als sie spürte, dass das Eingangstor ihr entgegenkommt. An jenen, als sie reflexartig versuchte, das Tor zu halten. Und an jenen, als sie auf dem Rücken lag, links und rechts ihres Kopfs Gitterstäbe. «Ich merkte schnell, dass ich Arme und Beine bewegen kann, und mir war sofort klar, dass ich grosses Glück hatte», sagt Regula Wohler. Sie sitzt in einem Café in der Bremgarter Unterstadt. Zu sagen, sie würde diese Szenen emotionslos beschreiben, das wäre falsch. Ein gewisser emotionaler Abstand aber, der ist spürbar. Regula Wohler hat während des Gesprächs nicht einmal Tränen in den Augen. Manchmal scheint es fast so, als wäre das, wovon sie erzählt, nicht ihr passiert. Stattdessen lacht sie, bringt ihre Lebensfreude zum Ausdruck.
Bolivien. Für Regula Wohler aus Bremgarten ist das südamerikanische Land eine zweite Heimat. «Dabei wollte ich zuerst eigentlich für ein Jahr nach Costa Rica gehen», erzählt sie. 2009 wars, als sie ein Sozialjahr machen wollte. Weil Costa Rica viele Leute ihres Umfelds schon aus Reisen kannten, wechselte sie auf das unbekanntere Bolivien. «Dieses Land lassen viele aus auf ihrer Südamerika-Reise. Warum? Wohl weil es nicht am Meer ist.» Darum wählte Wohler bewusst Bolivien. Und bewusst entschied sie sich dazu, bei einer Gastfamilie zu leben, obwohl sie schon 28-jährig war.
Kein einfacher Start in Bolivien
ich erst vor zwei Tagen von meinem Sozialjahr heimgeflogen.» Dabei sind 13 Jahre seither vergangen. Angewöhnungszeit habe sie keine gebraucht. «Sprache, Wetter, Essen, Familie – alles war perfekt.» Bis zum 18. März. Das Eingangstor zum Grundstück der Gastfamilie sei schon ein paar Tage kaputt gewesen. «Statt per Knopfdruck mussten wir es eben von Hand öffnen und schliessen. Kein Problem.» Das dachte sich Regula Wohler auch an diesem Tag, als sie mit der Gastmutter vom Einkaufen retourkam. Nur fiel das Tor aus der Führung. 100 Kilogramm landeten auf der zierlichen Frau.
Es war nicht Liebe auf den ersten Blick zwischen Regula Wohler und Bolivien. «No gusta» hat sie ihre Gastfamilie anfangs genannt, wie sie erst später erfuhr. Dass es «No me gusta» heisst, wusste sie damals noch nicht. Es war aber ihr Kommentar zu ganz vielem. Zum Joghurt-Angebot, das viel kleiner war als daheim, zum aufgetischten Essen, zum öffentlichen Verkehr. Es passte Regula Wohler ganz einfach gar nichts. Heute sagt sie: «Dass meine Gastfamilie gut zu mir ist, das habe ich immer gespürt, aber die ersten drei Monate waren geprägt vom Kulturschock.» Nachher wurde es besser, viel besser. Liebe auf den x-ten Blick. Regula Wohler arbeitete ein halbes Jahr in einer Stiftung für arme Familien, ein halbes Jahr in einem Projekt, das Mädchen von der Strasse holte, und wurde immer mehr Teil ihrer Gastfamilie. «Eine zweite Familie, meine Herzensfamilie», sagt sie über Mutter Sandra, Vater Xavier, Sohn Nicolas, dessen Frau Vivi und Tochter Samantha.
Eine Stunde, bis die Ambulanz kam
Regula Wohler spricht von höllischen Schmerzen. Von der Erleichterung, als sie merkte, dass sie alle ihre Extremitäten bewegen konnte. Aber Es seien wunderschöne zweieinhalb Monate gewesen, sagt Regula Wohler über ihre erneute Reise nach Bolivien. Obwohl ihre Gastfamilie am liebsten zig Ausflüge mit ihr unternommen hätte, mochte es Regula Wohler, «ganz einfach mit ihnen den Alltag zu erleben». Das Gefühl sei sofort wieder da gewesen. «Als wäre auch davon, dass ihr bewusst war, dass etwas am Rücken nicht stimmte. «Zudem fiel mir das Atmen wegen des Gewichts sehr schwer.» Hätte ihre Gastfamilie nicht nach Hilfe rufen können und hätten sie nicht zu dritt das Tor von ihr wegheben können – sie wäre wohl erstickt. Stattdessen lag sie da, geschockt. «Natürlich, die Minuten von der Alarmierung der Ambulanz bis zu deren Eintreffen erscheinen einem immer lang. Aber wir warteten über eine Stunde.» Rettungshelikopter gibt es in Bolivien keine. Entsprechend dauerte die Fahrt ins Spital wieder eine Stunde.
Der Anfang in Bolivien war holprig, der Abschied damals 2010 schmerzhaft. Dass dies nicht der Abschluss sein konnte, war für Regula Wohler sofort klar. Eineinhalb Jahre später flog sie wieder dorthin, ohne definiertes Rückreisedatum. Zwei Jahre blieb sie, arbeitete für die Austauschorganisation, mit der sie damals nach Südamerika reiste, und verliebte sich noch mehr in Land, Leute und Kultur. «Obwohl ich so ganz anders bin, strukturiert und organisiert. In Bolivien ist vieles chaotisch, spontan. Aber eben, Gegensätze ziehen sich an.» Trotzdem, auswandern wollte sie nie. «Dafür bin ich viel zu verankert in der Schweiz.» Die Familie, die Vereine – etwa die Theatergruppe Bünzen –, daran hängt Regula Wohler zu stark. Ist sie in der Schweiz, vermisst sie Bolivien. Ist sie in Bolivien, vermisst sie die Schweiz.
Brustwirbel zertrümmert
Am neunten Brustwirbel ist der Wirbelfortsatz gebrochen, der zehnte Brustwirbel ist nicht mehr erkennbar, stattdessen liegt das Rückenmark frei und beim elften Brustwirbel ist die Wirbelplatte gebrochen. So lautete die Diagnose. Und das am anderen Ende der Welt. «Es war früh ein Thema, ob die Rega mich in die Schweiz holt. Wegen des offenen Rückenmarks und der drohenden Lähmung war das zu gefährlich.» Zudem habe sie nie ein schlechtes Gefühl der bolivianischen Medizin gegenüber gehabt. «Ich kenne dieses Land, fühle mich wohl hier, habe die Unterstützung einer zweiten Familie. Ich schaffe das.» So dachte sie damals.
Heute kann sie über gewisse Situationen lachen. «Als der Anästhesist kurz vor der Operation zu mir kam, mich fragte, wie gross und schwer ich überhaupt sei, und die Zahlen auf seiner Hand notierte, wurde mir doch etwas mulmig.» Gleich dürfte es vielen gehen, wenn Wohler erzählt, dass ihre Gastfamilie die Schrauben und Wirbel, die eingesetzt wurden, vor Ort zahlen musste. «Dass sie noch im Spital über den Preis feilschten, war mir dann auch etwas zu viel.»
22 Tage ohne frische Luft
14 Jahre sind vergangen, seit Regula Wohler ihre «Herzensfamilie» in Santa Cruz kennenlernte. Abgebrochen ist der Kontakt nie. In der Zwischenzeit hat Gastmutter Sandra sie bereits zweimal besucht in der Schweiz. 2018 war Wohler ferienhalber in Bolivien und besuchte die Familie. Letztmals sah sie Sandra 2019 in den USA. Der Kontakt ist täglich, über Whatsapp-Gruppenchats der Familie bekommt Regula Wohler mit, was passiert, mit Sandra telefoniert sie wöchentlich. «Es ist etwas Einmaliges», sagt sie. Wohler hat ihren Job gekündigt, wollte sich ein dreimonatiges Touristenvisum für Bolivien gönnen und erst schauen, wie es beruflich weitergeht, wenn sie retour ist. Das war der Plan. «Ich war dann aber noch im Spital in Santa Cruz, als mir ein Job in der Administration der Regiomed angeboten wurde.»
Sowieso, geworden sind aus den drei Monaten über vier Monate. 22Tage verbrachte Wohler im Spital, ohne frische Luft, ohne die Sonne auf der Haut zu spüren. «Mir war es wichtig, nachher nicht direkt heimzufliegen», sagt Wohler. Ihr war es wichtig, noch einmal Normalität zu erleben in Bolivien. «Meiner Gastfamilie ging es gleich – sie machten sich schreckliche Vorwürfe.» Schwierig war es aber auch für ihre Familie in der Schweiz. Hilflosigkeit. Täglicher Telefonkontakt half. Diesen pflegte sie auch zu einer Rega-Ärztin. «Dass ich in der Schweiz gleich behandelt worden wäre, brachte zusätzliche Sicherheit.» Froh war sie auch, dass ein Pfleger der Rega extra nach Bolivien f log, um Anfang Mai mit ihr den Rückflug in die Schweiz anzutreten. Sie erinnert sich: «Ich war sehr nervös, auch ob die Bewegungen meinem Rücken nicht schaden.»
Nie gehadert
Drei Monate sind seither vergangen. Dass Regula Wohler vor wenigen Wochen den Rücken mehrfach brach, nahe am Tod und noch näher an der Querschnittlähmung vorbeischlitterte, ist ihr nicht anzusehen. «Das Laufen ging relativ schnell ganz gut, wenn auch noch langsam.» Das Bücken falle ihr nach wie vor nicht leicht. Schwere Dinge zu heben, ebenso. «Ich habe nun das Okay bekommen, dass ich wieder schwimmen und Velo fahren darf, einfach alles im Rahmen meiner Belastbarkeit.» Es gelte das Vertrauen in den Rücken zurückzugewinnen. «Vieles ist Kopfsache, auch weil ich mich drei Monate in einer Schonhaltung bewegt habe.» Bis alles ist wie vorher, daure es rund ein Jahr. Regula Wohler sagt auch dies ganz nüchtern, fast stoisch. Sie habe nie gehadert, stattdessen immer vorwärts geschaut, positiv gedacht, wie sie es immer tut. Und auch gegenüber ihrer zweiten Heimat bleibe wegen des Vorfalls nichts Negatives haften. «Im Gegenteil. Ich würde gleich wieder gehen.»