«Morgens sind sie am aktivsten»
31.07.2025 Natur, KelleramtWasservögel im Fokus
Ornithologischer Verein lässt Vögel zählen
Seit 1971 werden die Vogelpopulationen am Flachsee gezählt. Arthur Ingold hilft mit, diesen einmaligen Datensatz aktuell zu halten.
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Wasservögel im Fokus
Ornithologischer Verein lässt Vögel zählen
Seit 1971 werden die Vogelpopulationen am Flachsee gezählt. Arthur Ingold hilft mit, diesen einmaligen Datensatz aktuell zu halten.
Für die Ornithologische Gruppe Reusstal zählt der Beriker Arthur Ingold monatlich den Bestand der Wasservögel am Flachsee. Damit haben er und seine Vorgänger etwas Einzigartiges geschaffen.
Der Datensatz, den die Ornithologische Gruppe Reusstal erarbeitet hat, dürfte schweizweit einzigartig sein. Seit 1971 wird der Bestand an Wasservögeln monatlich dokumentiert. --red
Arthur Ingold zählt seit 36 Jahren monatlich die Wasservögel am Flachsee – er hat noch keine Tour verpasst
Der Datensatz, den die Ornithologische Gruppe Reusstal erarbeitet hat, dürfte schweizweit einzigartig sein. Seit 1971 wird der Bestand an Wasservögeln monatlich dokumentiert. Arthur Ingold hat nach wie vor Freude an dieser Aufgabe.
Thomas Stöckli
Laut schnatternd fliegt ein Schwarm Graugänse vorbei. Ansonsten ist es ruhig am Flachsee. Weil es geregnet hat, der Wasserstand und die Fliessgeschwindigkeit höher sind als üblich, haben sich die Wasservögel in die Schilfgürtel oder Nebengewässer zurückgezogen. Aktuell würde es sie zu viel unnötige Energie kosten, gegen die Strömung anzukämpfen. Kein guter Moment also, um den Bestand zu zählen. Doch das muss Arthur Ingold an diesem Tag auch nicht tun. Schliesslich braucht er für seine Aufgabe Konzentration und könnte sich nicht gleichzeitig auf ein Gespräch fokussieren.
Mehr Vögel im Winter, bessere Tarnung im Sommer
Die Route für die Wasservogelzählung ist seit Oktober 1971 dieselbe: Vom Stauwehr Bremgarten sechs Kilometer flussaufwärts bis zur Reussbrücke in Werd, inklusive Abstecher an die Stille Reuss. Die Idee damals: Die Auswirkung der Aufstauung des Flachsees auf die Welt der Wasservögel zu dokumentieren. Am Anfang wurde das alle fünf Tage gemacht. Um Ressourcen zu sparen, passte man den Turnus später auf 10 Tage an. Mittlerweile führt die Ornithologische Arbeitsgruppe Reusstal die Zählung monatlich durch. Seit 36 Jahren ist Arthur Ingold dafür zuständig. Mit dem Velo klappert er jeweils Mitte Monat die immer gleichen Zählungssektoren ab – und hat noch nie eine Tour verpasst. Im Winter sei die Anzahl Wasservögel grösser, im Sommer dafür die Zählung mühsamer, weil das Laub die Sicht einschränkt.
«Seit 1971 fehlen nur zwei Monatszählungen», sagt Ingold. «Beide vor meiner Zeit», bestätigt er auf Nachfrage. Ob die Daten fehlen, weil die Resultate verschollen sind oder weil sie nie erhoben wurden, ist nicht bekannt. Davon abgesehen: «Ein solch langjähriger und umfassender Datensatz ist schweizweit einzigartig», verrät er nicht ohne Stolz.
Der Flachsee verlandet
Die markantesten Änderungen wurden wie erwartet unmittelbar nach der Aufstauung des Flachsees registriert. Zeitweise wurden in der Winterzählung 4000 bis 5000 Wasservögel registriert. «Meine Vorgänger mussten in die Hände klatschen, um einzelne Gruppen zählen zu können», veranschaulicht Ingold.
In seiner Amtszeit waren es nie mehr als 3000 Exemplare. Und nach Hochwassern zuweilen deutlich weniger: «Wenn die Kleine Emme aus dem Napfgebiet viel Sand mitbringt, stört das den Lebensraum in den Kiesbänken», erklärt Arthur Ingold. Und wenn ihre Beutetiere fehlen, bleiben eben auch die Wasservögel aus.
Doch auch seither tut sich immer wieder etwas. «Der Flachsee verlandet langsam», nennt Ingold einen Grund. Als Folge des Rückstaus fehlt es der Reuss an Dynamik. Und je langsamer ein Fluss fliesst, desto mehr Sedimente lagert er ab. Am Flachsee zeigt sich das auch bezüglich der Flora. Erst breitet sich Schilf aus, dann folgen Weiden und schliesslich Erlen. «Wenn man nichts machen würde, entstünde ein Auenwald», so Ingold. «Und der böte seinerseits dem Pirol und der Nachtigall Lebensraum.» Als die Reuss noch frei durchs Tal mäandern durfte, bildeten sich in einem natürlichen Kreislauf so immer wieder aufs Neue artenreiche Lebensräume.
Auch Flamingos und Adler
Die eingangs beschriebenen Graugänse gehören nicht zu den ökologisch wertvollsten Arten. Grösser ist die Freude bei Arthur Ingold, wenn er Löffler oder Stelzenläufer registriert. Auch Flamingos waren schon am Flachsee zu Gast. Der erste sei aus dem Zoo Zürich entflohen, später habe sich auch ein ganzer Trupp aus einer Brutkolonie aus Italien eingefunden. Und ein weiteres Highlight seien grosse Greifvögel. So habe er auch schon mehrere Fischadler gesehen, erzählt Ingold. Dafür seien die Schellenten, die früher im Winter zwischen Werd und Rottenschwil häufig vorkamen, komplett verschwunden. Ob das am hiesigen Nahrungsangebot liegt oder daran, dass in Skandinavien und im europäischen Teil Russlands, wo sie hauptsächlich brüten, die Seen wegen des Klimawandels nicht mehr zufrieren, kann er nicht sagen.
Unterwegs wird der Vogelzähler auch immer wieder angesprochen. «Es sind immer mehr Leute unterwegs», stellt er fest. Auch zunehmend Hobbyfotografen mit grossem Teleobjektiv. Und es zeigt sich, dass die Vogelbeobachter gut vernetzt sind. «Wenn auf der Melde-Plattform ornitho eine besondere Sichtung registriert wurde, sind zwei Stunden später schon 20 Fotografen da.» Nicht alle halten sich an die Regeln im Naturschutzgebiet: «An der Stillen Reuss gab es schon Jahre, in denen ich jedes zweite Mal einen Fotografen vor einer seltenen Orchidee in der Wiese stehen sah.»
Neue Arten bereiten Sorge
Vier bis fünf Stunden ist Arthur Ingold jeweils unterwegs. Nach Möglichkeit um den 15., plus minus einige Tage, und am Morgen: «Dann sind die Vögel am aktivsten», begründet er, «und somit am besten sichtbar.» Im Winter zähle er jeweils 1000 bis 2000 Exemplare, wobei Stockenten, Reiherenten und Tafelenten die Hauptzahlen ausmachen. Wenn im Sommer die Reiherenten und Tafelenten weiter im Norden sind, dominieren klar die Stockenten. Dann kommt er total jeweils auf 400 bis 500 Wasservögel.
Während im Hintergrund Limikolen-Rufe zu hören sind, kommt Arthur Ingold darauf zu sprechen, was ihn an der Welt der Federtiere fasziniert: «So grosse Wanderungen von Norden nach Süden und umgekehrt gibt es heute nur noch in der Vogelwelt», hält er fest. Auch Mittelmeer-Möwen haben es der Rhone entlang bis in hiesige Gefilde geschafft: «Mittlerweile brüten hier bis zu 30, 35 Paare.» Neue Arten sorgen nicht nur für Freude. «Ich habe schon Mittelmeer-Möwen gesehen, die ein Graugans-Küken geschnappt haben», berichtet Ingold. Sollte dies bei bedrohten Arten vorkommen, werde es kritisch.
Mehr Sorgen bereitet ihm allerdings die Ausbreitung von Waschbären. Als gute Kletterer, Allesfresser und Rudeltiere stellen sie für die hiesige Vogelwelt eine ernsthafte Bedrohung dar. Sollte es so kommen, wird Arthur Ingold die Auswirkungen auf seinen Zählungsrunden dokumentieren. «Ich mache es immer noch gern», verrät er. Nicht zuletzt, weil ihn die Aufgabe auch die Natur und den Wechsel der Jahreszeiten ganz intensiv erleben lasse. «Ich komme in Kontakt mit Leuten», nennt er einen weiteren Vorteil seiner Aufgabe. Und das Naheliegendste: «Ich sehe ab und zu auch ganz seltene Vögel.» Solange es körperlich und geistig gehe, werde er die Zählung weiterführen, betont Ingold.