Liebe hat viele Seiten
28.07.2023 Oberwil-Lieli, MutschellenGehör verschaffen
Für seinen ersten Film wurde Remo Scherrer aus Oberwil-Lieli bereits an diversen grossen Festivals ausgezeichnet. Jetzt feierte der 37-Jährige mit seinem zweiten Film «Der letzte Aufstieg» Anfang Woche Weltpremiere in Mexiko. ...
Gehör verschaffen
Für seinen ersten Film wurde Remo Scherrer aus Oberwil-Lieli bereits an diversen grossen Festivals ausgezeichnet. Jetzt feierte der 37-Jährige mit seinem zweiten Film «Der letzte Aufstieg» Anfang Woche Weltpremiere in Mexiko. Neben dem Bereich Animation gehört es zu Scherrers Spezialitäten, Tabuthemen aufzugreifen und seinen Protagonisten somit Gehör zu verschaffen. --sab
Remo Scherrer aus Oberwil-Lieli feiert Filmpremiere in Mexiko
Bereits sein erster Film «Bei Wind und Wetter» sorgte für Aufsehen und räumte zig Preise ab. Nun präsentierte Remo Scherrer sein zweites Werk in dieser Woche erstmals am Guanajuato International Film Festival in Mexiko der Öffentlichkeit.
Sabrina Salm
«Meine Lieder sind nun nicht mehr fröhlich. Meine Lieder sind erfüllt von Traurigkeit. Nun hab ich mich mit dem Leid und der Enttäuschung abgefunden» – singt Susana. «Als ich dich liebte, war es reines Glück. Sogar der Mond schien heller. Heute leuchten weder Mond noch Sonne für mich. Heute ist alles voll Leid und Dunkelheit.» Die Zeilen stammen vom Lied «Un dia nublado» von José Alfredo Jimenez, ein Ranchera Musikkomponist aus Guanajuato. Das Lied beschreibt das Leben von Susana gut. Sie ist die Protagonistin von Remo Scherrers Film «Der letzte Aufstieg», der Weltpremiere in Mexiko feierte.
Susana lebt mit ihrem Mann Alberto in Tepoztlán, Mexiko. Hand in Hand bewältigen sie die harte Arbeit auf dem Feld und im Haus. Seit 60Jahren sind sie verheiratet. Viele Probleme überschatten die Beziehung, die jetzt spürbare Narben hat. Auch wenn von der Liebe keine Spur mehr scheint, vereint sie ein letztes Projekt: Zu ihrem Jahrestag wollen die beiden «ihren» Berg noch einmal erklimmen. Mit der Kamera wird ihr Aufstieg begleitet. Prächtige Bilder der Natur werden dabei eingefangen, die Protagonisten erzählen ihre Seiten des gemeinsamen Lebensweges. Die Risse ihrer Liebe werden mit animierten Bildern dargestellt. «Der Film zeigt ein Leben voller Erinnerungen und Schmerz. Es geht um das Ringen um Freiheit, die Endlichkeit, den Umgang mit emotionalem Schmerz und natürlich um die Liebe», sagt Remo Scherrer über seinen kurzen Dokumentarfilm. Er ergänzt: «Und die Liebe hat nicht nur eine Seite.»
Wichtige Themen angehen
Eigentlich lag die Grundidee darin, die mexikanische Natur und die Menschen in diesem Bergdorf zu dokumentieren. Scherrer traf dabei auf das ältere Ehepaar und spürte während den vielen Gesprächen heraus, dass da wichtige Themen schlummern. So entwickelte sich sein Projekt immer weiter und bekam Tiefe. «Das Patriarchat und der Machismo ist in Mexiko ein besonders universelles Thema», erklärt Scherrer. «Machismo» beschreibt ein Herrschaftssystem, das von Männern dominiert wird. Das toxische Verständnis von Männlichkeit führt zu Gewalt gegen Frauen. Sie ist aber seit Jahrhunderten in den Sitten und Gebräuchen verankert und wird oft nicht wahrgenommen. «Das Thema aufzugreifen, lag mir am Herzen», so der 37-Jährige. «Deshalb war es mir wichtig, den Frauen, insbesondere meiner Protagonistin, eine Stimme zu geben.»
Bereits bei seinem Erstlingswerk «Bei Wind und Wetter» verschaffte er einer Protagonistin Gehör und machte auf ein wichtiges, oft tabuisiertes Thema aufmerksam. Der Film schildert die Kindheit eines Mädchens, dessen Mutter alkoholabhängig ist. Dass er in seinen Filmen die Geschichten von Frauen in den Vordergrund stellt, sei allenfalls nur Zufall. «Aber vielleicht ist es mir einfach wichtig, weil ich mit Schwestern aufgewachsen bin», lächelt Remo Scherrer.
Mehr Druck verspürt
Seinen ersten animierten Dokumentarfilm produzierte er 2016 als Abschlussfilm für seinen Master an der Hochschule Luzern «Design und Kunst». «Bei Wind und Wetter» wurde mehrfach prämiert und schaffte es unter anderem auf die «Long List» der Academy Awards (AMPAS). Der überraschende Erfolg kam für Remo Scherrer damals ein bisschen zum falschen Zeitpunkt, wie er rückblickend findet. «Ich war mit der mobilen Suppenküche ‹Soup-Port› des Vereins Soliba unterwegs. Wir waren in Griechenland und kochten für Flüchtlinge», erinnert sich Scherrer. «Da kam die Einladung an die Filmfestspiele in Cannes.» Eintauchen in zwei total gegensätzliche Welten empfand er als Schock. Natürlich war er dankbar für die Anerkennung, doch der schnelle Erfolg ist nicht nur Segen. Denn der Druck für das Folgeprojekt nahm automatisch zu. «Die beiden Filme wurden immer wieder miteinander verglichen. Was nicht immer zum Vorteil ist.»
Hartnäckiges Projekt
Lange hat Remo Scherrer an seinem zweiten Film, bei dem er als Drehbuchautor, Animator und Regisseur tätig war, gearbeitet. «O ja, man musste bei diesem Projekt hartnäckig sein», nickt er. Die Beschaffung der finanziellen Mittel erwies sich als schwieriger als noch beim ersten Film. Immer wieder seien unerwartete Dinge dazwischengekommen. «Eigentlich hatte ich ihn schon vor einem Jahr fertig. Doch da es seit der Pandemie schwieriger ist, Filme, die über 15 Minuten dauern, auf den Markt zu bringen, schien es mir eine gute Idee, eine Kürzung vorzunehmen.» Im Nachhinein betrachtet, sei dies richtig gewesen. «Das Resultat ist besser, da er sich nun auf das Wesentliche beschränkt», meint er zufrieden. Und das fanden wohl auch die Festivalbesucher, die in dieser Woche sein Werk «Der letzte Aufstieg» gesehen haben. «Es gab viele neue Bekanntschaften, Interviews und Glückwünsche sowie durchgehend schöne Feedbacks zum Film.» Fast die gesamte mexikanische Crew war dabei und hat mitgefeiert. «Ausserdem gab es bereits Anfragen von Festivals, die den Film 2024 zeigen möchten», freut sich Scherrer.
«Der letzte Aufstieg», auf Spanisch «La Última Subida», ist eine Koproduktion Schweiz–Mexiko. Involviert ist Catpics AG (CH), SRF und Chalchifilms (MX). Der Film wird im September im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt und ist halb animiert und halb real. «Das war eine neue Sphäre für mich.» Der gelernte Koch, er absolvierte seine Ausbildung im «Stadthof» Bremgarten, hat vor allem Erfahrungen im Animationsfilm-Bereich. Von der komplexen Kunstform ist er begeistert. «Bei der Animation spielt vieles zusammen. Es ist für mich eine gestalterische Auseinandersetzung mit mir selbst.»
Von Land und Leuten begeistert
Dass die Premiere in Mexiko am Guanajuato International Film Festival, kurz GIFF, stattgefunden hat, ist für ihn etwas ganz Besonderes. In Mexiko nahm er sich damals nach dem Hype um seinen ersten Animationsfilm eine Auszeit. Von Land und Leuten war er begeistert. «Es zog mich einfach hierhin.» Hier lernt Scherrer auch seine heutige Frau kennen und gründet mit ihr eine Familie. Zurzeit leben sie in Mexiko. «Das Gute an meiner Arbeit ist, dass ich sie von überall auf der Welt machen kann.» Obwohl er es bevorzugt, mit Partnern oder Kunden physisch in einem Raum zu sitzen. «Aber dank der heutigen Technik funktioniert es auch übers Internet.» Als Freelancer und Studiumsabsolvent Visuelle Kommunikation führt er auch Auftragsarbeiten wie Kurz- und Werbefilme, Animations- sowie Erklär- oder Musikvideos aus. «Als Drehbuchautor, Regisseur, Animator und Illustrator erzähle ich Geschichten für den Kunden, der mir die Möglichkeit gibt, etwas Einzigartiges zu kreieren.»
Einzigartiges kreieren wird er bestimmt auch wieder bei einem Film. Denn an Ideen mangelt es nicht. Man darf gespannt sein, welches Thema der Filmemacher dann aufgreifen wird und wem er eine Stimme gibt.
remo.scherrer@gmx.ch, instagram@remo_scherrer