Kraft, weiterzumachen
29.12.2023 MutschellenBesonderer Moment im Redaktionsalltag: Treffen mit psychisch krankem Familienvater (25. Juli)
Roger Wetli
Immer wieder heisst es, dass psychische Erkrankungen in der Schweiz zunehmen. Was das genau für die betroffenen Personen und ihr Umfeld ...
Besonderer Moment im Redaktionsalltag: Treffen mit psychisch krankem Familienvater (25. Juli)
Roger Wetli
Immer wieder heisst es, dass psychische Erkrankungen in der Schweiz zunehmen. Was das genau für die betroffenen Personen und ihr Umfeld bedeutet, konnte ich bisher nur erahnen. Bis in diesem Sommer: Die Arbeit als Journalist dieser Regionalzeitung ermöglichte mir, die psychiatrische Spitex zu begleiten. Und dies nicht irgendwo weit entfernt, sondern direkt in der Region. Ich empfinde es dabei als Vorteil, wenn ich mich gut vorbereitet und trotzdem unbefangen um das Thema kümmere. Das Treffen mit dem psychisch erkrankten Ramon Meier (Name geändert) hallte besonders nach, weil ich ihn ein paar Jahre früher bereits für einen ganz anderen Artikel getroffen hatte. Ich ahnte damals nicht, was in Meier vorgeht. Im Gespräch mit solchen Personen über ihre Krankheit wird einem vor Augen geführt, dass vieles, was wir für selbstverständlich halten, es nicht ist. Zumal mich mit Meier ein ähnliches Alter und die Rolle als Familienvater verbinden – und damit das Einfühlen noch leichter war.
Viel Geduld gefragt
Psychisch erkrankt ist Ramon Meier seit seinem 16. Lebensjahr. Seine Tiefs waren aber nie so heftig und lang anhaltend, wie er es seit Juli 2022 erlebt. Damals erlitt er so heftige Angstattacken, dass er sich kaum noch aus dem Bett wagte. Gleichzeitig machte er sich Vorwürfe, als Vater nicht für seine drei Kinder und seine Frau sorgen zu können. Ein Teufelskreis. Ein Aufenthalt in einer Klinik brachte nichts. Dann kam die psychiatrische Spitex zum Zug, die zu Meier nach Hause kommt. Für den Patienten hat das den Vorteil, dass er für die Termine nicht das Haus verlassen muss. «Das konnte ich längere Zeit gar nicht und später erst wieder dank der psychiatrischen Spitex», erklärte mir Meier. Ein riesiges Erfolgserlebnis sei schliesslich gewesen, als er mit der Bahn nach Dietikon fahren konnte. «So etwas war für längere Zeit undenkbar für mich», erklärte er. Die Spitex hilft ihm dabei Schritt für Schritt. Sie berücksichtigt dafür auch sein Umfeld. Er brauche seine Familie, erklärte Meier. Zuerst mussten aber wieder Tagesstrukturen für ihn aufgebaut werden. Ganz wichtige Stütze ist dabei Meiers Ehefrau. Die hält trotz drei Kindern zu ihm. Letzteres beeindruckte mich umso mehr, als man in der Regel beim Heiratsversprechen «in guten wie in schlechten Zeiten» in erster Linie an die guten Zeiten denkt. Meiers Ehefrau kennt dagegen sehr viele schlechte Zeiten – ohne ihn zu verlassen – und braucht Geduld. Die Fortschritte sind zwar vorhanden, werden aber immer wieder durch Rückschläge begleitet.
Noch immer zusammen
Seit einiger Zeit ist Ramon Meier so weit, dass er eine Arbeit als Abwart in den Mehrfamilienhäusern übernehmen konnte, in denen seine Familie und er selbst in einer Wohnung hausen. «Das ist ideal für mich, da ich völlig ohne Zeitdruck arbeiten kann», strahlte er. Seine Spitex-Betreuerin Linda Küng betonte: «Wichtig ist jetzt, dass er sich nicht übernimmt, wenn es ihm gut geht.» Ein halbes Jahr nach dem Artikel fragte ich bei Küng nochmals nach und erhielt erfreuliche Nachrichten: «Es geht Ramon Meier relativ stabil. Er meistert den Alltag und arbeitet weiterhin 30 bis 40 Stellenprozente als Hauswart. Er kümmert sich um die Kinder und ist auf dem besten Weg, einen Umgang mit seinen Panikattacken zu finden.» Die Spitex würde ihn weiterhin alle zwei Wochen coachen und begleiten. Und ja, das Ehepaar sei weiterhin zusammen, wie es bereits seit 16 Jahren gemeinsam durch gute und schlechte Zeiten gehe.