«Ich liebe den Freiamt-Spirit»
15.11.2024 Sport, RingenBesonderer Typ, besonderer Kampf
Halbfinal. Crunch-Time im Ringen. Freiamt empfängt Kriessern in Muri (Samstag, 20 Uhr, Bachmattenhalle). Doppellizenzringer Tanguy Darbellay wird als Walliser sein Kämpferherz für die Freiämter auf der Matte lassen ...
Besonderer Typ, besonderer Kampf
Halbfinal. Crunch-Time im Ringen. Freiamt empfängt Kriessern in Muri (Samstag, 20 Uhr, Bachmattenhalle). Doppellizenzringer Tanguy Darbellay wird als Walliser sein Kämpferherz für die Freiämter auf der Matte lassen «und alles geben», wie er sagt. Der 25-Jährige erzählt vom Knast in Minsk und wieso er seinen 86-jährigen Grossvater pflegt. Er ist ein besonderer Typ vor einem besonderen Kampf. --spr
Ringen, Nationalliga A: RS Freiamt – RS Kriessern (Samstag, 20 Uhr, Bachmattenhalle Muri) – Tanguy Darbellay im Fokus
Seine Lebensgeschichte ist aufwühlend. In Minsk sass er im Knast. Und er half Ukrainern, vor dem Krieg zu flüchten. Der Walliser Tanguy Darbellay, Doppellizenzringer der Ringerstaffel Freiamt, freut sich nun auf den Halbfinal gegen Kriessern. «Ich liebe die Freiämter und es wäre mir eine Ehre, wenn ich helfen kann.»
Stefan Sprenger
Die Erinnerungen sind noch präsent. An dieses Gefängnis in Weissrussland. Fünf Tage sitzt Tanguy Darbellay hinter Gittern, kriegt nur selten etwas zu essen, ständiger Lärm. Er kriegt mit, wie andere Häftlinge misshandelt und geschlagen werden. «Ich bin Ringer. Ich bin es gewohnt, Gewicht zu verlieren und wegen der Nervosität schlecht zu schlafen», erzählt er. Darbellay hat diese Tage – vergleichsweise – gut überstanden. Einem italienischen Journalisten, der mit ihm in der Zelle sass, «ging es ganz und gar nicht gut».
Bevor aufgelöst wird, wieso er überhaupt im Gefängnis war, spricht Tanguy Darbellay erst über ein freudiges Thema: den Halbfinal gegen Kriessern. Crunch-Time in der Ringer-NLA. Alles oder nichts. Die Stimmung in der Bachmattenhalle wird riesig sein. «Ich war jetzt zwei Jahre weg vom Ringsport. Jetzt steht wieder ein Halbfinal an. Es fühlt sich richtig speziell an, richtig gut. Es ist so, als ob ein Bubentraum nochmals in Erfüllung geht.» Darbellay gibt ein Comeback. Der 12-fache nationale Meister im Ringen hat in den letzten Jahren andere Sportarten für sich entdeckt: Ju-Jitsu und Grappling. In jener Sportart holte er zuletzt zweimal Bronze an der Europameisterschaft. Die umfasst verschiedene Kampfkünste, bei denen es um Clinches, Griffe und Bodenarbeit geht. «Es sind mehr Techniken erlaubt als beim Ringen», so der 25-Jährige. Beispielsweise Würgegriffe.
Topfit trotz zwei Jahren Ringerpause
Und das hält ihn enorm fit. Am letzten Samstag, als die Freiämter zum Abschluss der Qualifikationsphase Einsiedeln mit 14:24 von der Matte fegen, beweist Tanguy Darbellay mit seinem 18:1-Sieg nicht nur, dass er ringerisch nach wie vor ein Ausnahmekönner ist, sondern die Zuschauer staunten auch, wie physisch stark er ist. Schon eine Woche zuvor bei seinem ersten Kampf in diesem Jahr zeigte er eindrücklich, zu was er fähig ist: Darbellay siegte 17:0. «Ich bin topfit», sagt auch er selbst. Im Halbfinal gegen Kriessern könnte er eine wichtige Schlüsselrolle übernehmen.
Pascal Strebel, Trainer der Ringerstaffel Freiamt, sagt über Darbellay: «Ein super Typ. Ich habe grosses Vertrauen in ihn. Er ist in unserem Team sehr offen, sehr fair – und das wird geschätzt. Er passt bestens zu uns.» Für Darbellay selbst ist es eine Ehre, für die Ringerstaffel Freiamt auf die Matte zu gehen. In den letzten zwei Jahren hat er kaum mehr Ringen trainiert. Zuvor war er internationaler Ringer, holte an der Weltmeisterschaft den 7. Rang, opferte enorm viel für den Sport.
«Freue mich, mit den Freiämtern zu kämpfen»
In seiner Heimat Wallis ist der Ringsport aber nicht sonderlich ausgeprägt. Martigny ist zwar sein Stammverein, aber er fühlt sich im Freiamt heimisch. Schon 2021 und 2022 rang er für die RS Freiamt. Und kehrt jetzt nochmals zurück. «Ich liebe die Mentalität und den Spirit der Freiämter. Ich liebe ihr Kämpferherz. Ich freue mich, mit ihnen für den Erfolg zu kämpfen. Ich möchte aber keinen Druck spüren. Es soll ein Wollen sein, kein Müssen. Und die Freiämter bieten mir das alles. Und so bin ich froh, wenn ich dem Team helfen kann und den jungen Ringern vielleicht auch etwas Erfahrung weitergeben darf.» Eigentlich wäre Darbellay schon früher in der Saison für einen Einsatz vorgesehen gewesen, aber sein Club Martigny erschwerte den Transfer und er selbst bereitete sich auf die Grappling-EM vor. Als er dann wieder im Training der Freiämter war, traute er seinen Augen kaum. «Die jungen Ringer wurden einiges stärker. Auch mental hat das Team einen Schritt nach vorne gemacht. Sie sind alle top motiviert.» Er ist sich sicher: «Dieses Team hat riesiges Potenzial. Und die RS Freiamt wird in den kommenden Jahren ein ganz heisser Titelanwärter sein, ganz sicher.»
Beim Gespräch mit dem Walliser wird klar, was für ein besonderer Typ er ist. Er studiert im dritten Semester Psychologie an der Universität in Lausanne. «Das tue ich für mich, weil ich es spannend finde», sagt er. Gleichzeitig studiert er an der Fern-Uni Wirtschaft und Management. «Das mache ich für die Arbeit, weil ich meinen Traumjob im Bereich der Forschung und Wissenschaft sehe.» Darbellay erklärt zudem – in nahezu perfektem Deutsch: «Ich spreche Französisch, Russisch und Englisch. Deutsch ist meine schwächste Sprache.»
Und wenn es um die Sprachen geht, kommt man unweigerlich auf Weissrussland und seinen Gefängnisaufenthalt zu sprechen. Er sei mit 19 Jahren – das war 2018 – von zu Hause ausgezogen und wollte alleine leben und Erfahrungen für das Leben machen. Das tat er. Er lebte, trainierte und studierte ein halbes Jahr in Moldawien, ein Jahr in der Ukraine und 1,5 Jahre in Weissrussland.
Ausgezeichnet für seinen Mut
Und dort wurde er an einem Abend inhaftiert. Nach der Wiederwahl von Staatspräsident Alexander Lukaschenko gab es Unruhen, die gewaltsam niedergeschlagen werden. Darbellay ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Eigentlich wollte er nur mit einem Kumpel zu Abend essen gehen. Überall Polizei. Strassensperren. Darbellay wird verhaftet. «Unglaublich», sagt er – und hat aus jener Zeit aber auch gelernt, noch mehr Mitgefühl zu beweisen, noch mutiger zu sein – und seine eigene Freiheit jeden Moment zu schätzen. Rund ein Jahr nach diesem Vorfall im Knast von Minsk fährt Tanguy Darbellay – der aufgrund seines Gefängnisaufenthalts nicht mehr nach Weissrussland einreisen darf – nach Kriegsausbruch in der Ukraine an die Grenze und hilft vielen Ukrainerinnen und Ukrainern zur Flucht. Auch dort erlebte er schreckliche Dinge. Für seinen Mut erhielt er dafür die Auszeichnung «Athlete Safeguarding». In Magglingen gab er später Ringertrainings für Flüchtlinge.
Darbellay erzählt, dass er 3,5 Tage in der Woche in Lausanne lebt und 3,5 Tage bei seinem 86-jährigen Grossvater in Martigny. «Er ist nicht mehr so mobil und auch im Kopf nicht mehr der Jüngste. Ich helfe ihm im Alltag. Ich koche, wasche, putze. Denn es ist wichtig, dass wir für unsere älteren Menschen schauen. Irgendwann sind auch wir alt und froh, wenn uns jemand hilft.»
Neben der Matte ein Vorbild in Sachen Mut und Nächstenliebe, auf der Matte ein gefürchteter Ringer. Vor dem Duell gegen Kriessern sagt er: «Ich werde alles geben. Es wird eine tolle Stimmung, ein toller Kampf, ein toller Abend. Kriessern hat ein sehr gutes Team. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir Freiämter es am Ende in den Final schaffen. Das wird etwas ganz Besonderes werden.» Vielleicht sogar so besonders wie dieser Tanguy Darbellay.
Das sagt Strebel
17:14 siegte die RS Freiamt im Halbfinal 2023. Die 14:21-Auswärtspleite in Kriessern bedeutete das Out. Nun kommt es am Samstag in der Murianer Bachmattenhalle zur Revanche. Seit dieser Saison ist Pascal Strebel der Trainer. Kitzelt es den Olympiaringer vor den Finalkämpfen nicht, nochmals auf die Matte zu gehen? «Nein, ich kämpfe nicht mehr, das ist wohlüberlegt.» Vor dem Heimkampf gegen Kriessern sagt er: «Wir sind bereit. Wir geben unser Bestes. Die Hütte wird voll sein mit 600 oder mehr Fans. Emotionen, Stimmung, gute Kämpfe. Alles, was den Ringsport ausmacht. Ich freue mich riesig. Kriessern ist ein Topteam, muss vielleicht aber mehr reagieren, als ihnen lieb sein wird.» --spr