«Das Gute im Menschen überwiegt»
16.08.2025 Region BremgartenReise mit Vertrauen
Die 76-jährige Stefica Gajic aus Eggenwil ging zu Fuss von Bourg-Saint-Pierre nach Rom
46 Tage zu Fuss, 1000 Kilometer, 7 Regionen und mittendrin im Treffen der Weltjugend aus 146 Ländern – die Pilgerreise ...
Reise mit Vertrauen
Die 76-jährige Stefica Gajic aus Eggenwil ging zu Fuss von Bourg-Saint-Pierre nach Rom
46 Tage zu Fuss, 1000 Kilometer, 7 Regionen und mittendrin im Treffen der Weltjugend aus 146 Ländern – die Pilgerreise «Via Francigena» von Stefica Gajic hatte es in sich. Sie erzählt von einer aussergewöhnlichen Reise durch Geschichte, atemberaubende Landschaften, Natur und Glauben.
Sabrina Salm
Eigentlich kennt man Stefica Gajic aus Eggenwil als begnadete Läuferin der LR Wohlen, die in ihrer über 35-jährigen Laufkarriere Sieg um Sieg einheimste. Und es auch mit 76 Jahren noch tut. Nun aber begab sie sich auf eine Reise, bei der es nicht darum ging, die Erste zu sein. Am 12. Juni brach sie auf in ihr Abenteuer. Mit der Pilgerreise Via Francigena erfüllte sie sich einen lang gehegten Traum. «Jetzt oder nie», habe sie sich gesagt. «Man wird nicht jünger und weiss auch nicht, wie lange man noch so gut zu Fuss ist.»
Wundervolle Begegnungen
Vorbereitet auf den langen Weg, der auch über den St.-Bernhard-Pass führte, hat sie sich kaum. «Ich lief im Vertrauen», sagt Gajic. Sie wanderte über Geröll und Schnee in den Bergen, durch einsame, schattenarme mediterrane Landschaften, lief wie Napoleon mit seinen Truppen sowie auch Gaius Julius Cäsar über die noch verbliebene antike Römerstrasse nach Gallien. Sie hatte eine Begegnung mit Wildschweinen und sah sogar den Papst, weil sie unwissend genau am 29. Juli, beim Treffen der Weltjugend im Rahmen des Heiligen Jahres, in Rom ankam. «Ein junges, buntes Zusammenkommen aus aller Welt, vereint in einem Glauben und Hoffnung auf eine friedliche Welt. Es war beeindruckend», resümiert sie gerührt. Dort traf sie auch einige Weggefährten wieder. «Allgemein hatte ich auf meiner Pilgerreise Begegnungen mit wundervollen Menschen, die einen mit Leib und Seele erfüllen.» Stefica Gajics Wanderung über einen Teil der Via Francigena ist von so vielen Emotionen geprägt. Sie habe so viel erlebt und Unmengen an Eindrücken gesammelt. «Ich schwitzte viel, Tropfen der Gnade, dachte aber nie daran, aufzuhören. Jeder Tag war erfüllt mit Glücksgefühlen.»
Die Eggenwilerin Stefica Gajic berichtet über ihre Pilgerreise nach Rom
Die 76-jährige Stefica Gajic wagte sich auf eine besondere Reise. Von Bourg-Saint-Pierre (Wallis) über den St.-Bernhard-Pass lief sie alleine bis nach Rom. Vom 12. Juni bis 29. Juli war sie unterwegs und bezwang zu Fuss einen Teil der Via Francigena, 1000 Kilometer. Zurück zu Hause erzählt sie von ihren Erlebnissen.
Sabrina Salm
Froh und dankerfüllt sei sie, dass ihre Reise so gut gegangen ist. «Ich hatte keine einzige Blase an meinen Füssen, meine Beine hielten durch, darüber hinaus vertrug ich die Hitze», erzählt eine glücklich strahlende Stefica Gajic. «Das Einzige, was gelitten hat, sind meine Schultern vom schweren Rucksack.» Schwer war dieser nicht, weil sie so viel mitnahm. Sondern wegen ihrer Schäferpfeife, eine Art Dudelsack. «Dass ich sie mitgenommen habe, hat sich aber allemal gelohnt.» Denn als sie das Holzinstrument in einer mittelalterlichen Kirche in Bollengo hervornimmt und spielt, begeistert sie den Bürgermeister und einen Musiker, denen sie zufällig begegnete. «Eigentlich ist die Kirche wegen den wertvollen Fresken nur bei Anlässen geöffnet. Für mich machten sie eine Ausnahme», erzählt die 76-Jährige den Grund, weshalb sie überhaupt den beiden Männern ein Ständchen gab. «Sie haben mich sogar eingeladen, am Konzert des Musikers in dieser Kirche ein Stück zu spielen.» Gajic lehnte dankend ab, sie wollte weiter.
Lauf- gegen Wanderschuhe getauscht
Stefica Gajic ist vielen als Lauflegende bekannt. Seit sie ihre Laufkarriere vor über 35 Jahren gestartet hat, sackt Gajic Sieg um Sieg ein. An unzähligen Cups und Marathons nahm sie schon teil. Macht auch heute noch von sich reden, letzte Saison war sie mit zehn Siegen die erfolgreichste Läuferin in ihrem Verein Läuferriege (LR) Wohlen. Für ihren lang gehegten Traum, eine Pilgerreise zu unternehmen, tauschte sie nun ihre Laufschuhe gegen Wanderschuhe ein. Es ging ihr nicht darum, als Erste im Ziel anzukommen, sondern der Weg war das Ziel.
«In meinem Alter weiss man nie, wann das Laufen nicht mehr gut geht. Jetzt wollte ich handeln – nicht nur davon träumen», erklärt sie. Am 12. Juli fuhr sie ihr Ehemann Vukasin ins Wallis nach Bourg-Saint-Pierre. «Es war mir wichtig, am Fusse des Grossen Sankt Bernhard zu starten, um im Hospiz zu übernachten, wo auch einst Napoleon mit seinen Truppen nächtigte.» Es war ein mühsamer Weg durch den Schnee sowie mit verschneiten Markierungen. Oben angekommen empfing sie ihr Mann. Schon am nächsten Morgen galt es dann, vorerst Abschied voneinander zu nehmen. «Ich fragte mich wirklich: Werden wir uns wiedersehen?», gibt der 82-jährige Vukasin Gajic offen zu. Es ist ihm anzusehen, dass er seine Frau für ihren Mut bewundert und erleichtert ist, sie nun wieder bei sich zu haben. «Aber ja, ich habe mir grosse Sorgen um sie gemacht.» Für Stefica Gajic war jedoch von Anfang an klar – sie will die Pilgerreise alleine unternehmen. Zu zweit rede man mehr, gleichzeitig könne man seine eigenen Gedanken nicht walten lassen. «Ist man alleine, kann man sich ganz auf die Umgebung und sich selber einlassen.»
Verirrungen, Sonnenaufgänge und Wildschweine
Nicht ganz unberechtigt waren die Sorgen von Vukasin Gajic, der selbst aktiv im Laufsport war. Lauerten auf dem Weg doch auch Gefahren. Besonders wenn sie in den Bergen über Geröll oder durch Schnee wandern musste. Sie gesteht: «Anfangs habe ich mich x-mal verirrt. Fühlte mich verloren.» Andere Pilger waren verblüfft, dass sie sich keine App mit Routenplaner heruntergeladen hatte, der ihr den Weg weisen könnte. «Das wollte ich nicht, denn es wäre nicht der Sinn der Sache gewesen. Ich wollte wie die Pilger von früher unterwegs sein.» Stefica Gajic schüttelt langsam den Kopf, schaut ihren Mann an und schmunzelnd fügt sie hinzu: «Tatsächlich habe ich mir dann trotzdem eine App heruntergeladen.» Benutzt habe sie die digitale Hilfe aber nur, wenn sie wirklich nicht mehr wusste, wohin. Darüber hinaus, wenn es wegen der fehlenden Signalisation brenzlig wurde.
Jeweils morgens um 4 Uhr stand sie auf, ass ihren Haferbrei, packte die wenigen mitgebrachten Sachen und startete zu ihrer nächsten Etappe. Belohnt wurde sie zu dieser frühen Tageszeit mit den «fantastischsten» Sonnenaufgängen. «Ich lief immer nur am Morgen. Nachmittags war es zu heiss.» Die Etappen führten sie durch sieben Regionen, von der Magie des Aostatals bis zu den Gerüchen in Lazio. Sie ging an der prallen Sonne über Feldwege, über die noch verbliebene Römerstrasse, die einst auch von Napoleon bereist wurde, und durch Wälder, in denen ihr viele Tiere über den Weg liefen. «Einmal standen plötzlich zwei Wildschweine vor mir.» Diese Tiere können sehr gefährlich werden. «Da war mir schon etwas bang zumute», sagt sie. Ganz selbstverständlich erzählt sie weiter, dass sie, ausgerüstet mit einem Stock als Schutz, auf leisen Sohlen und ganz langsam an den Wildschweinen vorbeiging.
Vertrauen hat sich gelohnt
«Ich ging eben im Vertrauen, dass alles gut kommt, auf die Reise», meint die gebürtige Kroatin dazu. Für diese Einstellung wurde sie von anderen Pilgern und Wanderern bewundert. Sie hat den meist viel jüngeren Leuten regelrecht imponiert. Nicht nur ihr Erscheinungsbild (sie war meist ganz in Weiss gekleidet), ihr Alter und ihre Gelassenheit, planlos nach Rom zu reisen, haben Eindruck gemacht. Auch ihre kleinen Konzerte mit ihrer Schäferpfeife sorgten für besondere Erinnerungen bei den Mitpilgern, denen sie häufig in den Unterkünften oder auf der Wanderroute begegnet ist. «Ich war umgeben von jungen Leuten. Da habe ich mich auch gleich wieder jung gefühlt», sagt sie mit strahlenden Augen. Stefica Gajic kommt ins Schwärmen: «Sie haben mich so respektvoll behandelt.»
Vertrauen hatte sie auch, was die Unterkünfte betraf. Denn vorab etwas zu buchen, kam für sie aus bekannten Gründen nicht infrage. So kam es vor, dass die Pilgerherbergen voll besetzt waren. Einen Platz zum Schlafen fand sie allerdings immer – mal bei einer jungen nepalesischen Familie oder bei Ordensschwestern. Sie habe so viele nette Menschen kennengelernt, mit denen sie noch heute in Kontakt ist. «Diese Begegnungen sind sehr wertvoll für mich.» Das festigt ihre Überzeugung: «Das Gute im Menschen überwiegt.»
Papst sorgt für das i-Tüpfchen
«Ich war immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort.» Die hochgezogenen Mundwinkel untermalen ihre empfundene Dankbarkeit dafür. Ihr Erlebtes in Rom bekräftigt ihre Aussage. Sie kam nach 46 Tagen auf dem Petersplatz vor dem Dom an – just zum Weltjugendtag. Das Treffen im Rahmen des Heiligen Jahres, das alle 25 Jahre stattfindet. «Eine Million junger Menschen aus 146 Ländern haben mit Papst Leo XIV. unter freiem Himmel gebetet sowie gefeiert und ich war mittendrin.» Überwältigend sei dieser besondere Event gewesen.
Beim Erzählen von ihrer Pilgerreise kullern bei Stefica Gajic immer wieder die Tränen. So präsent sind die Emotionen heute noch. «Ich bin so glücklich. Es ist das Beste, was ich jemals in meinem Leben gemacht habe.» Sie habe nicht gewusst, dass sie die Fähigkeit besitze, eine solche Reise alleine zu meistern. Sie sei aus ihrer Komfortzone ausgebrochen, in der es sicher und geregelt ist. Manchmal müsse man weit weg fahren, um Erkenntnisse zu finden, auf die man lange gewartet habe. Klar habe ihr ihre Karriere als Läuferin geholfen, was Ausdauer, Durchhalten sowie Kondition betrifft. Dieses Erlebnis sei anders als jeder Sieg bei einem Rennen. «Wenn ich bei einem Wettkampf ins Ziel komme, bin ich erleichtert, glücklich und stolz. Das Erreichen des Pilgerziels war anders. Ich hatte einen langen Weg hinter mir, habe unglaublich viel erlebt. Das löst ganz andere, intensivere Gefühle aus. Es ist nicht vergleichbar.»
Das Einzige, was sie ein wenig bedauert, ist, dass sie die Einladung zum Konzert in der Kirche in Bollengo nicht angenommen hat. «Ich hätte bleiben sollen», meint sie. Lächelt selig und schwelgt wieder in Erinnerungen, von denen sie noch lange zehren wird.
Geschichte der Via Francigena
1800 Kilometer ist Erzbischof Sigerich im Jahr 996 von Canterbury in Südengland nach Rom marschiert, um vom Papst seine Weihe zu empfangen. Damit legte er den Grundstein der Via Francigena, der einst wichtigsten Pilgerroute zwischen Nordeuropa und Italien. Bedeutende Stätten wie Kathedralen von Canterbury, Lausanne und Siena sind entlang des Weges entstanden, genauso wie das Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard und der Petersdom in Rom. Die Via führt bis nach Apulien.