«Darf eigentlich nicht passieren»
12.05.2023 Sport, FussballDer Freiämter Sascha Amhof zeigt sich offen und ehrlich und äussert sich zu den aktuellen VAR-Diskussionen
Sascha Amhof hat 2019 bei der Einführung des VAR mitgeholfen. Jetzt erlebt er die neu entfachten Diskussionen besorgt mit – als VAR-Supervisor ...
Der Freiämter Sascha Amhof zeigt sich offen und ehrlich und äussert sich zu den aktuellen VAR-Diskussionen
Sascha Amhof hat 2019 bei der Einführung des VAR mitgeholfen. Jetzt erlebt er die neu entfachten Diskussionen besorgt mit – als VAR-Supervisor und als Leiter des Ressorts Schiedsrichter beim Verband. Der Sarmenstorfer sagt: «Es wird immer Fehler geben» – und nennt gleichzeitig Verbesserungsmöglichkeiten.
Stefan Sprenger
Sascha Amhof macht es sich am letzten Sonntag auf dem Sofa in seinem Zuhause in Erlinsbach gemütlich – und zieht sich den «Klassiker» im Schweizer Fussball rein: FC Basel gegen den FC Zürich. Als VAR-Supervisor ist er oft in Volketswil tätig und begleitet die Schiedsrichter hautnah. 2019 half der frühere FIFA-Schiedsrichter als einer von drei Experten, den Video Assistant Referee (VAR) in der Schweiz einzuführen. Und nun sieht der 43-Jährige – der Leiter des Ressorts Schiedsrichter beim Verband – auf seinem Sofa diese Szene, die für viele Diskussionen in den folgenden Tagen sorgen wird – und den VAR in die Kritik bringt.
«Bitte nicht, das darf nicht wahr sein»
85. Minute: Ein Zürcher fällt im Strafraum, die Basler Proteste sind riesig. Sie fordern, dass der Schiedsrichter sich die Szene nochmals anschaut. Doch der VAR – der Video-Assistent – meldet sich nicht. Der Fehlentscheid wird nicht korrigiert. Es gibt eine turbulente und aggressive Schlussphase, einigen Spielern brennen die Sicherungen durch, es gibt mehrere Platzverweise. «Ich habe zuerst gedacht: ‹Bitte nicht, das darf nicht wahr sein›», sagt der 43-Jährige. Eine Woche zuvor (Spiel des FC Zürich gegen FC Sion) gab es ebenfalls schon einen hochumstrittenen VAR-Entscheid. Amhof wird kurz still und fügt an: «Fehler sind menschlich. Zu glauben, dank dem VAR gibt es keine Fehler mehr, ist eine Illusion.» Im Interview äussert sich der Sarmenstorfer zum VAR – und macht besondere Vergleiche.
2019 waren Sie eine wichtige Figur, als der VAR in der Schweiz eingeführt wurde. Hätten Sie damals gedacht, dass es so viele Diskussionen geben würde?
Sascha Amhof: Ja und nein. Irgendwie hoffte ich, dass der VAR etwas weniger Gesprächsstoff liefert, als es heute der Fall ist. Andererseits wusste man, dass sich Fehler nie ganz vermeiden lassen und weiterhin über Szenen gestritten werden wird. Übrigens habe ich vor Kurzem ein paar Zeitungsausschnitte rausgesucht von damals, als 2018 klar wurde, dass wir den VAR in der Schweiz einführen werden.
Und?
Man hat immer gesagt: Der Faktor Mensch ist weiterhin vorhanden. 100 Prozent richtige Entscheide wird es nicht geben. Das war von Anfang an klar. Und man hat auch gesagt, dass es weiterhin Diskussionen geben wird.
Mit den jüngsten VAR-Fehleinschätzungen bei den Spielen Zürich gegen Sion und Basel gegen Zürich wurde heftig diskutiert.
Beide Entscheide waren Fehleinschätzungen. Die Penaltyszene zwischen Zürich und Basel wurde erst vom Schiedsrichter auf dem Platz falsch eingeschätzt. Der VAR sah die Berührung und dachte, es sei kein klarer Fehler – und ist deshalb nicht eingeschritten. Somit waren es zwei Fehleinschätzungen. Es ist ein Spiel von Menschen für Menschen, da geschehen Fehler. Aber zwei so dicke Fehler hintereinander, das ist enorm unglücklich und darf eigentlich so nicht passieren. Das ist nicht unser Anspruch. Aber Schiedsrichter sind auch Sportler – und im Sport gibt es mal Höhenflüge und mal Tiefpunkte.
Und aktuell ist ein Tiefpunkt?
Die mediale Berichterstattung und diese zwei Fehler beschäftigen uns Schiedsrichter in der Schweiz sehr, weil wir ungewollt im Rampenlicht stehen. Als VAR-Supervisor und als Leiter des Ressorts Schiedsrichter hierzulande kann ich Ihnen aber garantieren, dass die Unparteiischen immer ihr Bestes geben. Aber wie gesagt: Menschen machen Fehler. Ob Schiedsrichter oder Fussballer. Aber bei einem Eigentor wird nicht so viel diskutiert.
Wie meinen Sie das?
Viele Menschen fragen: Wie kann das passieren? Ich mache dann jeweils einen Vergleich. Das Schiedsrichtergespann ist ein Team, genauso wie die Fussballmannschaft. Beide Teams trainieren und geben ihr Bestes. Der Schiedsrichter will keine Fehler machen, der Fussballer kein Eigentor schiessen. Und doch passieren beide Dinge. Ein Fussballer trifft manchmal ins eigene Tor, unabsichtlich. Ein Schiedsrichter macht manchmal Fehler, unabsichtlich.
Mit dem VAR sollte aber die Fehlerquote drastisch gesenkt werden.
Richtig. Und das ist ja auch der Fall. Auch hier habe ich einen Vergleich: In den neuen Autos gibt es immer mehr Technik, aber Unfälle passieren trotzdem. Beim VAR ist es ähnlich. Der Faktor Mensch bleibt. Und Menschen machen Fehler. Ich verstehe die aktuellen Diskussionen. Gleichzeitig stelle ich die Frage: Will man Fussball, wo alle Entscheidungen korrekt sind und sich alle einig sind? Wollen wir einen klinischen Sport?
Hoffentlich nicht.
Unsere Gesellschaft akzeptiert immer weniger Fehler. Sofort wird gemotzt. Es ist auch gefährlich, wenn wir die menschlichen Fehler nicht mehr akzeptieren. Ob im Sport oder im Alltag. Keine Fehler im Leben zu machen, ist eine Illusion. Und es gibt – im Fussball – auch viele Schiedsrichterentscheide, die einfach einer Grauzone sind. Den Interpretationsspielraum kann man gar nicht ausschliessen. Wir können nur versuchen, es in Zukunft noch besser zu machen. Wir können nur versuchen, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Denn wir können aus diesen Fehlern auch lernen. Und das werden wir.
Nebst dem menschlichen Faktor – wo sehen Sie eine weitere Fehlerquelle?
Die Belastung der Schiedsrichter ist hoch. Wir haben wenig Unparteiische und viele Spiele. Gemeinsam mit vier Mitarbeitern bin ich für die Einteilung der rund 350 Schiedsrichter im Land zuständig. Das heisst: Alle Spiele von der Super League bis zur 2. Liga interregional brauchen jeweils Schiedsrichter und Assistenten. Das ist eine ziemliche Herausforderung. Das wird auch für die Schiedsrichter schnell belastend, wenn sie vermehrt im Einsatz stehen. Und in dieser Saison ist die Belastung noch höher. Wegen der Fussball-WM in Katar ist der Spielplan noch enger als sonst. Da darf man sich die Frage stellen: Sind wir frisch genug? Sind wir genügend Schiedsrichter? Beides würde ich mit Nein beantworten.
Was könnte man verbessern?
Das Schiedsrichterwesen in der Schweiz könnte man noch weiter professionalisieren. Bessere Bedingungen für Schiedsrichter und mehr Ressourcen schaffen. Das würde sicherlich etwas bringen. Aber auch dann wird es weiterhin Fehler geben. Weil Menschen einfach Fehler machen. Das wird auch so bleiben. Was auch so bleiben wird, ist, dass die Schiedsrichter in jedem Spiel ihr Bestes geben.
Der VAR ist vor vier Jahren im Schweizer Fussball eingeführt worden. Bitte eine kurze Bilanz.
Der Fussball ist gerechter geworden, die Fehler wurden weniger. Aber es gibt natürlich weiterhin Entwicklungspotenzial. Das ist unbestritten. Da müssen wir nicht diskutieren.