Alk-Missbrauch ein Gesicht geben
30.12.2022 Unterlunkhofen, KelleramtBesondere Momente im Redaktionsalltag: Treffen mit der Witwe eines alkoholsüchtigen Ehemanns
Roger Wetli
Alkoholsucht ist auch in der ach so offenen Schweiz immer noch ein Thema, über das in erster Linie geschwiegen wird. Immer wieder ...
Besondere Momente im Redaktionsalltag: Treffen mit der Witwe eines alkoholsüchtigen Ehemanns
Roger Wetli
Alkoholsucht ist auch in der ach so offenen Schweiz immer noch ein Thema, über das in erster Linie geschwiegen wird. Immer wieder staune ich, wenn ich dann erfahre, dass diese oder jene Person abhängig ist. Vor allem wenn es Leute sind, die ich nicht regelmässig beim öffentlichen Trinken erlebe. Alkohol ist gesellschaftlich akzeptiert und sehr weit verbreitet, der Missbrauch offenbar leider auch. Wir schauen aber lieber weg und trinken uns die Sorgen darüber weg. Umso wichtiger ist, wenn wir als Zeitung über solche Tabuthemen schreiben.
Wie ein Sechser im Lotto fühlte es sich deshalb an, als mich in diesem Juli die Unterlunkhoferin Gabriele Voigt kontaktierte: «Ich organisiere Anfang September einen Vortrag zum Thema Alkoholmissbrauch und biete an, vorgängig meine eigene Geschichte in dieser Zeitung zu erzählen», erklärte sie. Beim Gespräch ein paar Tage später erfuhr ich von ihr, dass sie diesen Schritt in Absprache mit ihren beiden Töchtern getroffen hatte. Dies war wichtig, denn von der Alkoholsucht war nicht etwa sie, sondern ihr vor 13 Jahren verstorbener Ehemann und Vater der beiden Töchter betroffen. Vor Ort bei ihr zu Hause fragte ich Gabriele Voigt noch, ob sie diese Geschichte wirklich dem ganzen Freiamt erzählen möchte und ob ich nicht besser einen Decknamen für sie verwenden soll. Denn wer sich in unserer Zeitung mit Bild ablichten lässt, wird möglicherweise auf der Strasse erkannt und auf den Artikel angesprochen.
Einblick geben, ohne sich in den Vordergrund zu rücken
Gabriele Voigt war es aber wichtig, dem Alkoholmissbrauch ein Gesicht zu geben und damit zu verdeutlichen, dass die Süchtigen tatsächlich kein Gerücht sind, sondern mitten unter uns leben. «Ich will damit das Trinken von Alkohol nicht verteufeln, sondern zum vorsichtigen Umgang mit ihm aufrufen», betonte sie. Und fing an, ihre Geschichte zu erzählen. So habe sie sich als Nichttrinkerin zum Beispiel jahrelang zum Diener des Alkohols gemacht, indem sie die Spuren der Sucht ihres Mannes vor Drittpersonen laufend verschwinden liess. Gemeinsam schafften ihr Mann und sie es, ihn seine Sucht einigermassen in den Griff bekommen zu lassen. «In unregelmässig grossen Abständen kam es danach noch zu Abstürzen. Es hat mich bis zum Schluss viel Nerven gekostet», blickte sie beim Gespräch zurück und betonte immer wieder, dass ihr Mann ein liebevoller Familienvater gewesen sei, der nie zu Hause und schon gar nicht vor den Kindern getrunken habe. Ich spürte, dass Gabriele Voigt jetzt einer Öffentlichkeit Einblick in ihr Leben geben wollte, ohne sich dabei selber in den Vordergrund zu rücken.
Keine Verharmlosung
Das Gespräch mit ihr bewegte sich dabei auch bald um den eigenen Alkoholkonsum. Ein Thema, das mich als Bierliebhaber und im Privaten «Gelegentlich über den Durst»-Trinker seit Jahren immer wieder beschäftigt: Ab wann bin ich süchtig? Bin ich es überhaupt? Was macht der Alkohol langfristig mit meinem Körper? Welchen Einfluss hat er ausserhalb des gelegentlichen Rausches auf meine Psyche? Sind Bier und, gelegentlich, Schnäpse und Weine für mich wirklich nur ein Genussmittel? Reicht es, um nicht süchtig zu sein, wenn man nach dem Konsum eines einzigen alkoholhaltigen Bieres kein zweites mehr braucht?
Antworten dazu gab auch das Gespräch mit Gabriele Voigt nicht. Sie ist ja auch keine Suchtexpertin, sondern hat als Ehefrau den Alkoholmissbrauch ihres Ehemannes hautnah miterlebt. Es ist aber wichtig, dass diese Fragen gestellt werden und der gesellschaftliche Umgang mit Alkohol immer wieder thematisiert wird. Eine Verharmlosung ist nicht angesagt, trotz der schädlichen Auswirkungen aber auch keine Verteufelung. Es ist so wie mit vielen Themen: Man sollte sie ansprechen und gemeinsam Lösungen finden. Denn nur weil nicht darüber geschrieben und gesprochen wird, existieren diese Probleme trotzdem. Reden hilft da.
Auf Alkohol ganz verzichten?
Und dazu regt auch der Mut von Gabriele Voigt an, dieser Sucht ein Gesicht zu geben. Werde ich deshalb künftig auf Alkohol verzichten? Ganz bestimmt nicht. Ich werde aber vielleicht das eine oder andere Zusatzglas ablehnen. Und wie ich bereits beim Erscheinen des Artikels von Gabriele Voigts Geschichte kommentierte: Man soll auch mit alkoholfreien Getränken anstossen. In diesem Sinne wünsche ich ein gutes, frohes neues Jahr, einen Jahreswechsel in lieber Gesellschaft und ein gegenseitiges freudiges Zuprosten: egal ob mit Wasser, Cola, Eistee, Wein, Champagner, Bier oder Schnaps.