GASTKOLUMNE
13.12.2024 KolumneCaroline Doka, freischaffende Journalistin, in Wohlen aufgewachsen, lebt heute in der Nähe von Basel.
Ein Kind wird geboren
Es begann harmlos. Er säuselte etwas von einem Berner Lithografen und ...
Caroline Doka, freischaffende Journalistin, in Wohlen aufgewachsen, lebt heute in der Nähe von Basel.
Ein Kind wird geboren
Es begann harmlos. Er säuselte etwas von einem Berner Lithografen und Fotografen. «Carl Durheim», sagte er harmlos in den lauen Frühlingsabend hinein, «schuf vor 175 Jahren die ersten eidgenössischen Briefmarken. Und die weltweit erste Serie von Fahndungsfotos.» Die Fotografien begeisterten mich. Mit Briefmarken konnte ich nichts anfangen. «Willst Du Durheims Jubiläumsbiografie schreiben?» Biografie? Schreiben? Ich? Ich kam zu meinem Buch wie die Jungfrau zum Kind.
Bis zum Sommer las ich alles über Carl Durheim, die Anfänge der Briefmarken, die Pionierzeit der Fotografie. Staunte über Worte wie Franko-Marken und Daguerreotypie, wühlte mich durch Kirchenbücher, entzifferte Dokumente in alter Schrift und betrat Anfang Juli den Tunnel. Ich recherchierte und schrieb, schrieb und recherchierte. Ringsumher begann die Welt zu verschwinden. Der Sommer fand ohne mich statt.
Dafür erwachte Carl Durheim zum Leben. Wehte blass wie ein Gespenst durch meine Tage. Ich wusste nicht, ob ich ihn mochte. Unehelich geboren, vom Vater anerkannt, die Mutter namenlos. Lithografie die Pflicht, Fotografie die Kür, Bergsteigen seine Leidenschaft. Je mehr ans Licht kam, desto klarer sah ich sein Wesen und hinter dem Namen den Menschen.
Längst dachte mein Kopf nur noch Durheim. Es kam die Nacht, als ich aus unruhigem Schlaf aufschreckte. Das schaffst du nie! Panik packte mich. Ende Jahr ist Abgabe, im Mai die Vernissage. Ich stand auf, setzte mich ans Buch. Seither werden meine Nächte zum Tag, ich arbeite rund um die Uhr. Den Herbst habe ich komplett verpasst. Nie verflogen Stunden, Tage, Wochen so schnell.
Ich finde uneheliche Kinder, die in keinem Stammbaum stehen, fleissige Menschen, lustige Hallodri und gesuchte Schurken, viele Rätsel und eine tiefe Freude. Und endlich, während ich auf die Dezemberzielgerade biege, den Namen von Durheims Mutter.
Längst ist Carl Durheim ein Freund geworden, das Buch mein Kind. Noch zehn durchwachte Nächte, bis die Letzte, die Heilige vor der Tür steht. Ich hoffe, ich kann zu Weihnachten sagen: Ein Kind ist geboren. Mein Buch. Verwundert tauche ich aus meinem Tunnel auf und erkenne im hellen Schein des Weihnachtsbaumes: Die Welt da draussen, es gibt sie noch.