Keine Selbstverständlichkeit
22.04.2022 MutschellenHausarzt Marcel Butti im Gespräch
Knapp vier Jahrzehnte kümmerte sich Marcel Butti um die körperlichen Beschwerden der Menschen. Nun geht er in Pension.
«Zwischen Arzt und Patienten besteht ein spezielles Verhältnis», ...
Hausarzt Marcel Butti im Gespräch
Knapp vier Jahrzehnte kümmerte sich Marcel Butti um die körperlichen Beschwerden der Menschen. Nun geht er in Pension.
«Zwischen Arzt und Patienten besteht ein spezielles Verhältnis», erklärt Marcel Butti. 36 Jahre war er als Hausarzt Ansprechperson der Menschen im Kelleramt, auf dem Mutschellen und aus der Umgebung. 34 davon führte er in Oberlunkhofen eine eigene Praxis. Dass mit Fachärztin Isabella Humbel relativ schnell eine Nachfolgerin gefunden wurde, sei keine Selbstverständlichkeit --cbl
«Problem wird sich verschärfen»
36 Jahre kümmerte sich Marcel Butti um seine Patienten – nun wird er pensioniert
Knapp vier Jahrzehnte linderte Marcel Butti die körperlichen Leiden der Menschen im Kelleramt, auf dem Mutschellen und in der Umgebung. Mit seiner Pensionierung blickt er auf viele Veränderungen zurück und schaut auf künftige Herausforderungen.
Celeste Blanc
Untersuchen, Diagnosen stellen, an andere Ärzte verweisen, Medikamente verschreiben – über drei Jahrzehnte war der Alltag von Allgemeinpraktiker Marcel Butti vom Lindern körperlicher Beschwerden geprägt. Nun tritt der 70-jährige Butti Ende dieser Woche seine wohlverdiente Pension an. Dass das Doktorzentrum mit Isabella Humbel, Fachärztin Allgemeine Innere Medizin, eine Nachfolgerin für ihn gefunden hat, bezeichnet er «als grossen Glücksfall». Viele Allgemeinpraktiker hätten bei der Suche Mühe. So auch Marcel Butti selbst, der vor 10 Jahren begann, eine Nachfolge seiner Praxis zu organisieren, die er damals in Oberlunkhofen führte.
«Wieso das so ist, kann ich nicht genau sagen. Dennoch zeigen Umfragen bei Medizinstudenten, dass der Weg in die Allgemeinmedizin und somit zu einem Hausarztberuf von den wenigsten verfolgt wird», erklärt der Arzt. «Wahrscheinlich liegt das in der veränderten Grundhaltung. Es wird mehr Wert auf die Work-Life-Balance gelegt.»
Gemeinschaftspraxis attraktiver
Marcel Butti führte 34 Jahre eine eigene Hausarztpraxis in Oberlunkhofen, bevor er 2020 als 68-Jähriger noch einen beruflichen Wechsel ins Doktorzentrum Mutschellen wagte. Dass er in einer Gemeinschaftspraxis sein Pensum langsam abbauen konnte, war ebenfalls keine Selbstverständlichkeit: «Es ermöglichte mir, für meine Patientinnen und Patienten nach und nach eine gute Nachfolgelösung zu finden.» Auch für ihn selber sei das wichtig gewesen. Zwar hätte er von heute auf morgen künden können. «Aber ich wollte das wegen meiner Patienten nicht.» So gehe es vielen Hausärzten, die mit der Suche nach einem Nachfolger Mühe haben.
In der Gemeinschaftspraxis genoss er, dass viele der administrativen Aufgaben entfielen. Es sei ein ganz anderes Arbeiten gewesen als in der eigenen Praxis. Denn nebst der Tätigkeit als Mediziner sei man als Hausarzt zusätzlich auch noch Buchhalter, Arbeitgeber und Kleinunternehmer. Dieses Paket an Aufgaben und Herausforderungen sei wahrscheinlich ein weiterer Aspekt, der dem heutigen «Hausarztproblem» zugrunde liegt. «Alle Kollegen in der Region sehen sich mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert. Und das Problem wird sich verschärfen.» Schätzungsweise die Hälfte der Allgemeinpraktiker wird in den nächsten fünf Jahren pensioniert. Auch seien Gemeinschaftspraxen attraktiver, denn sie ermöglichen Teilpensen, was vor allem bei Ärzten und Ärztinnen mit Kindern beliebt sei.
Zu viele Patienten
Bei Butti war das vor knapp vier Jahrzehnten anders. Er wusste schon während des Studiums, dass er in die Allgemeinmedizin möchte. «Die Allgemeinmedizin ist spannend, vielseitig und abwechslungsreich – aber auch herausfordernd», so Butti. Man müsse mit vielen Unsicherheiten umgehen können, vor allem zu Beginn der Karriere. «Vieles ergibt sich dann mit der Routine.» Mit der Zeit würde man «eine Intuition» dafür entwickeln, wie man weiter vorzugehen hat.
Nach seinem Studium zog er der Liebe wegen nach Althäusern und suchte in der Region Räumlichkeiten, um eine eigene Praxis zu eröffnen. Er kam nach Oberlunkhofen, wo damals ein Überbauungsprojekt bei der heutigen Raiffeisenbank in Planung war, inklusive Räumlichkeiten für Arztpraxen. «Als das nicht zustande kam, habe ich mich über der Bäckerei Brumann im ersten Stock eingemietet», erinnert sich Butti zurück. Das war 1986. Seither hat er sich um seine Patienten im Kelleramt gekümmert. Schon damals waren Hausarztpraxen im Kelleramt rar. Es gab eine Praxis in Jonen, weitere in Bremgarten. «Obwohl es wenig Praxen gab, musste ich Werbung machen, um Patienten reinzuholen», lacht Butti. Heute sei das unvorstellbar. «Macht irgendwo eine Arztpraxis auf, ist man innert zwei Wochen voll.»
Das lag daran, dass die Bevölkerung im Kelleramt kleiner war als heute. «Damals lebten in Oberlunkhofen 900 Menschen. Heute sind es 2000», so Butti. Und im ganzen Kelleramt leben mittlerweile 8000 Personen. Nebst Butti hatte auch noch Doktor Jan Holy in Jonen eine Praxis. Man stiess mit der Auslastung an seine Grenzen. «Wir hatten keine Kapazitäten mehr, um alle aus der Region zu betreuen. Theoretisch hätte sich jeder von uns um 4000 Patienten kümmern müssen. Das ist sehr viel, wenn man davon ausgeht, dass ein Arzt um die 1500 Patienten betreuen kann, um gut ausgelastet zu sein.» Gleiches sehe man heute in der ganzen Region, beispielsweise in Bremgarten, auf dem Mutschellen oder in Wohlen.
Ein allgemeines Zeitphänomen
Auch die Medizin und die Tätigkeit haben sich in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert. Wie alle Bereiche «technologisierte» sich auch die Medizin. Der technische Fortschritt mache es heutzutage einfacher, Diagnosen zu stellen. «Das MRI ist dafür das beste Beispiel», so Butti. Dieses ermögliche, im Körper genauer nachzuverfolgen, was nicht stimmt. Was zwar unterstützend bei Diagnosen sei, wirke sich in finanzieller Hinsicht zunehmend auf die Gesundheitskosten aus. «Diese Entwicklung ist natürlich ein Kostentreiber und macht die Medizin teurer.»
Auch sehe er, dass das «Vertrauen ins Fachmännische» zurückgehen würde – von Patienten wie auch von Ärzten selber. Dies sei aber nicht nur im Bereich der Medizin so. Es sei ein allgemeines Zeitphänomen. «Es scheint, als hätte man verloren, pragmatisch zu handeln. Für alles muss zusätzlich noch ein Spezialist hinzugezogen werden – sei es beim Auswechseln einer Lampe oder beim Einholen einer Zweitmeinung bei einem körperlichen Leiden.» Dabei hebt Butti aber den Zeigefinger. «Das bedeutet nicht, dass Zweitmeinungen nicht wichtig sind. Das sind sie klar bei Fällen, wo die Diagnose nicht eindeutig ist», stellt er klar und fügt schmunzelnd die Metapher hinzu: «Wo aber eine Ente eine Ente ist, braucht es keinen Zoologen, der bestätigt, dass es sich um eine Ente handelt.»
Besondere Beziehungen
Mit der Pension bleibt für Marcel Butti nun mehr Zeit, sich anderen Dingen zu widmen. Beispielsweise Wanderungen, Ausf lügen oder auch dem einen oder anderen geselligen Anlass. «Und natürlich dem Ausmisten», lacht er. In den letzten 36 Jahren haben sich diverse Patientenakten angesammelt, die es nun gilt durchzusehen, weiterzugeben oder auszusortieren.
Obwohl Butti sich auf die Pensionierung freut, schwingt beim Allgemeinpraktiker auch Wehmut mit. «Zwischen Arzt und Patienten gibt es schon ein sehr spezielles Verhältnis», so Butti. Zwar sei die Arbeit nicht immer einfach, aber dennoch mehr als nur bereichernd. «Wenn man so lange als Hausarzt in einer Region tätig ist, ist es einfach spannend. Man lernt unter anderem den Menschen wie auch seine Familienmitglieder sehr gut kennen. So eine Langzeitbetreuung kann in gewissen Fällen sehr hilfreich sein, weil man über Vorerkrankungen oder allgemein die medizinische Geschichte einen guten Überblick hat.» Zum Teil hat er seine Patientinnen und Patienten über drei Jahrzehnte in medizinischen Fragen begleitet.
Es sei eine «professionelle Nähe», die so wahrscheinlich einzigartig sei. «Einerseits erzählen Patienten ihrem Arzt Dinge, die sie sonst niemandem erzählen würden, was Vertrautheit schafft. Andererseits ist natürlich immer die professionelle Distanz da, die gewahrt werden muss», erzählt der Mediziner. «Diese besondere Beziehung werde ich in meinem neuen Lebensabschnitt sicherlich vermissen.»