Beat Rüttimann hat sich einen Traum verwirklicht und sein eigenes Veloreparatur-Unternehmen gegründet. Sein Konzept: Er kommt zum Kunden. Aus einem Lieferwagen hat der 37-jährige Bremgarter eine mobile Fahrrad-Werkstatt gebaut, in der er Reparaturarbeiten aller Art durchführt. Für den Familienvater ist Velo flicken mehr als ein Beruf. Zweiräder sind seit jeher seine grosse Leidenschaft. --huy

«Es war Zeit, etwas zu wagen»

Beat Rüttimann fährt durchs Reusstal, um Velos zu reparieren

Seit dem vergangenen Sommer hat Bremgarten einen mobilen Velochirurgen. Mit seinem Unternehmen hat sich Beat Rüttimann einen Traum erfüllt. Er will für Nachhaltigkeit und Transparenz stehen und den Veloinhabern der Region einen einzigartigen Service bieten.

Marco Huwyler

Von aussen sieht das Gefährt aus wie ein normaler Lieferwagen. Doch die Innenausstattung des Mobils mit dem rot-weissen «Velochirurgen»-Schriftzug hat es in sich. Öffnet man die Schiebetür offenbart sich dem Betrachter nämlich eine regelrechte Hightech-Werkstatt. Elektronik, Computer sowie unzählige Werkzeuge und Ersatzteile für Fahrräder sind hier verbaut und verstaut. «Das Wichtigste ist aber die Kaffeemaschine», scherzt Beat Rüttimann und lacht.

Der 37-Jährige hat seine mobile Werkstatt in monatelanger Arbeit selber gebaut und ausgestattet. Auf seinem Laptop läuft eine eigens auf die Bedürfnisse des Unternehmens angepasste Buchhaltungssoftware. Gespeist werden sämtliche Elektrogeräte von Solarzellen auf dem Dach des Wagens. «Man kann schon sagen, dass mein «Lieferwagen» ein Unikat ist», sagt Rüttimann stolz.

Flexibel und transparent

Mit ihm ist der Bremgarter seit dem vergangenen Sommer tagtäglich unterwegs in der Region und repariert die Velos seiner Kunden an deren Wohnort – bei komplizierteren Defekten nimmt er die Zweiräder mit und bringt sie nach dem Flicken wieder. «Ich habe das Gefühl, Flexibilität sei in der heutigen Gesellschaft immer gefragter», erklärt Rüttimann seine Philosophie. «Man kann sich mittlerweile fast alles bestellen. Deshalb dachte ich mir: Warum nicht auch den Velomechaniker?» Das Konzept des Velochirurgen bietet damit Komfort und Service. Und sieht absolute Transparenz vor.

«Ich möchte, dass meine Kunden von vornherein genau wissen, was die Reparatur kostet», sagt Rüttimann und zeigt sein ausgeklügeltes Preis- und Dienstleistungssystem, das man auf der Homepage des Jungunternehmens einsehen kann. «Damit rücke ich von dem in der Branche üblichen Stunden-Verrechnungs-Ansatz ab. Wenn ich an einer Reparatur mal etwas länger brauche als üblich, ist das halt mein Problem», lächelt er. «Aber ich mache meine Arbeit schliesslich sehr gerne. Sie ist auch meine Leidenschaft.»

Rüttimann ist mit der Liebe zum Velo aufgewachsen. Seit er zurückdenken kann, war er stets am liebsten und sehr oft mit dem Fahrrad unterwegs. «Man trifft mich draussen sehr selten ohne an.» Die Leidenschaft zu Zweirädern liegt in Rüttimanns Familie. «In den Ferien machten wir eigentlich meistens Velotouren», erzählt er. Als Beat grösser wurde, begann er, selber Zweiräder zu warten und an ihnen herumzuschrauben. «Damals gab es noch Alteisengruben», erinnert er sich lächelnd. «Am Mittwochnachmittag bin ich mit meinem Vater jeweils dorthin gegangen, um nach möglichen Teilen zu suchen.» Später, während seines Ingenieurstudiums arbeitete Rüttimann im Nebenjob erstmals bei einem Velomechaniker. «Ich hätte mir schon damals vorstellen können, dies hauptberuf lich zu machen.» Doch die entsprechende Lehre schloss auch Arbeiten an Mofas ein. «Und diese interessierten mich nicht die Bohne», lacht er.

So arbeitete Rüttimann nach seinem Studium jahrelang im Bauwesen. Zuletzt war er Projektleiter und Bauführer. Eigentlich gefiel ihm die Arbeit. Auch der Lohn war gut. Doch irgendwie fehlte dem Bremgarter etwas. «Ich hatte immer den Drang und das Bedürfnis, etwas Eigenes, Sinnstiftendes zu machen. Etwas, wofür ich richtig brenne», erzählt er. Zudem wuchs in Rüttimann die Sorge, dass seine Familie bei seinen Arbeitszeiten zu kurz komme. Der 37-Jährige ist Vater von zwei kleinen Kindern. «Ich will unter keinen Umständen deren Aufwachsen verpassen», sagt er.

So nahm Rüttimann einen bevorstehenden Wechsel seines Arbeitsortes vor Jahresfrist als Anlass, etwas zu wagen und seinen sicheren Job-Hafen zu verlassen. Er kündigte und gründete sein eigenes Unternehmen, wo er sein grosses Hobby zum Beruf machen konnte. Der Velochirurg war geboren.

Velo-Boom hat zwei Seiten

«Aus meinem Umfeld waren nicht alle glücklich darüber», lacht Rüttimann. «Du spinnst doch – diese Unsicherheit, dieses Risiko – in deiner Lage als frischgebackener Vater», sei nicht selten die erste Reaktion auf seine Pläne gewesen. «Zum Glück bestärkte und unterstützte mich meine Frau von Anfang an», sagt er. «Ohne ihre Hilfe wäre das alles nicht möglich.» Rüttimann ist überzeugt, dass er den richtigen Moment für sein beruf liches Abenteuer gefunden hat. «Es war Zeit, etwas zu wagen», sagt er. «Ich denke, wenn ich es nicht gemacht hätte, würde ich dieser Chance mein Leben lang nachtrauern.» Der Zeitpunkt, in die Branche einzusteigen, scheint Rüttimann ideal. Seit Pandemiebeginn gibt es einen Velo-Boom, was für einen Velomechaniker natürlich eine wachsende Zahl an potenziellen Kunden bedeutet.

Diese Medaille hat allerdings auch eine Kehrseite. Ersatzteile für Fahrräder sind ein rares Gut geworden. «Manchmal suche ich stundenlang nach einem passenden Teil», erzählt er. Vieles sei in der Schweiz gar nicht mehr erhältlich und müsse über Umwege und mit zu hohen Preisen bestellt werden. «Das drückt dann natürlich auf meine Marge.» Rüttimann gibt zu, dass er diesen Aspekt ein wenig unterschätzt habe. «Ich hätte nicht erwartet, dass ich für das Administrative dermassen viel Zeit brauche.» Ein Unternehmen zu führen, bedinge viel Zusatzaufwand neben den Kernaufgaben. Buchhaltung, Homepage-Pf lege, Marketing, Organisation und vieles mehr. «Fast die Hälfte meiner Arbeitszeit geht dafür drauf», berichtet der Velochirurg.

Ebenfalls nicht erwartet hätte Rüttimann, dass diverse Hersteller nicht mit ihm zusammenarbeiten mögen. «Weil ich keinen Showroom habe, wo ich ihre Produkte ausstelle und verkaufe, kann ich von manchen Marken nicht zu Händlerkonditionen Ersatzteile beziehen.» Deswegen einen solchen einzurichten, kommt für den Bremgarter aber nicht infrage. «Das interessiert mich nicht. Ich möchte kein Verkäufer sein.» Das Reizvolle an seinem Beruf sei für ihn das Tüfteln und Flicken. Das Schaffen von Nachhaltigkeit. «Wenn ich ein schönes altes Modell wieder herrichten kann, das sonst weggeworfen worden wäre, erfüllt mich das mit grosser Freude. Der Aufwand ist dann sekundär.»

Bescheidene Ambitionen

Dass sein Geschäft deshalb wohl kaum je eine Goldgrube werden dürfte, ist Rüttimann bewusst. «Das ist auch nicht meine Ambition.» Wachsen und allenfalls zusätzliche Angestellte beschäftigen möchte er nicht. «Ich will nah bei den Kunden bleiben und möglichst oft mein Handwerk ausüben», sagt er. «Das einzige Ziel, das ich habe, ist, dereinst von meinem neuen Beruf leben und damit meine Familie versorgen zu können.» Zum jetzigen Zeitpunkt befinde er sich immer noch in der Investitionsphase. «Ich gebe momentan noch jeden Franken, den ich einnehme, auch wieder für das Unternehmen aus», sagt Rüttimann.

Mittelfristig muss sich dies natürlich ändern, dessen ist sich der Jungunternehmer bewusst. Doch unter Druck setzen lassen mag er sich nicht. Auch ein Scheitern seines Traums eines langfristigen Berufslebens als «Velochirurg» wäre für Rüttimann kein Weltuntergang. «Wenn es nicht klappt, dann war es eine Investition in mich selbst», sagt er. «Andere machen für viel Geld eine berufliche Weiterbildung. Ich versuche stattdessen, meinen Traum zu verwirklichen und eine Firma zu führen.» Rüttimann ist davon überzeugt, dass Letzteres schlussendlich lehrreicher ist. Und hat damit vermutlich recht.

Bremgartens Velochirurg

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