Und dann wird alles gut
24.12.2019 LiteraturDie etwas andere Weihnachtsgeschichte
1 – Maria
Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Wie lange geht das jetzt schon so? Drei Wochen? Vier Wochen? Maria hat das Zeitgefühl längst verloren.
Von ...
Die etwas andere Weihnachtsgeschichte
1 – Maria
Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Wie lange geht das jetzt schon so? Drei Wochen? Vier Wochen? Maria hat das Zeitgefühl längst verloren.
Von Christoph Zurfluh
Und allmählich verlässt sie auch die Hoffnung. Ist dies bereits das Ende der Reise? Einer Reise, die sie gar nie unternehmen wollte! Es scheint ewig her, dass sie hier gestrandet ist, in dieser lausigen Unterkunft an diesem trostlosen Hafen, aus dem alle wegwollen. Übers weite Wasser in eine bessere Welt.
In eine bessere Welt? Maria lächelt traurig. Ist diese Welt, von der sie keine Vorstellung hat, tatsächlich eine bessere? Nicht einmal die Sprache wird sie verstehen. Wie sollte sie auch? Eine einfache Frau aus einer armen Familie, verheiratet mit einem einfachen Mann aus einer armen Familie. Was darf sie schon erwarten? Hätte es das Schicksal gut mit ihr gemeint, sie sässe jetzt nicht hier mit ihren kleinen Kindern und den paar Habseligkeiten: sechs Leben, verpackt in zwei Koffer.
Der kleine Joseph ist an ihrer Schulter eingeschlafen. Ob er wieder Fieber hat? Wie friedlich er aussieht. Und wie geduldig er und seine drei Geschwister sind. Als ob sie wüssten, dass es nun um alles geht. «Herrgott!», bricht es aus ihr heraus, «lass uns nicht verrecken an diesem fremden Ort. Gib wenigstens meinen Kindern eine Chance. Das ist doch nicht zu viel verlangt.»
Oder vielleicht doch? Maria hat in den vergangenen Wochen so viel Unglück gesehen, dass sie sich gefragt hat, ob der Allmächtige sie und ihresgleichen wohl einfach vergessen hat. Noch hat der wirklich schwierige Teil ihrer Reise gar nicht begonnen, und schon sterben die Menschen um sie herum wie die Fliegen. So kommt es ihr wenigstens vor.
«Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen», hörte sie irgendeinen Gottesmann noch murmeln. Doch Maria hat da ihre Zweifel. Hat der Herr denn nichts Besseres zu tun, als Menschen zu sich zu nehmen, die man hier nun schmerzlich vermisst?
«Warum weinst du, Mutter?», fragt die neunjährige Elisabeth.
«Alles wird gut», lügt Maria und wischt sich eine Träne weg.
2 – Jakob
Schon wieder stiehlt sich ein Schiff davon. Wie ein träges Meeresungeheuer pflügt es durch das stinkende Hafenwasser, den Bauch bis oben hin gefüllt mit Menschen, die auf ein besseres Leben hoffen und dafür alles aufgegeben haben, was ihnen wichtig war: ihre Häuser, ihre Familien, ihre Heimat. Natürlich hat es auch Abenteurer unter ihnen, die es kaum erwarten können, die Welt zu erobern. Und Taugenichtse, die sich aus dem Staub machen, weil sie es mit allen verscherzt haben. Aber die meisten haben bloss einen Antrieb: Verzweiflung.
«Werden wir jemals zu Hause sein in dieser neuen Welt?», fragt sich Jakob jetzt. «Falls wir überhaupt dort an kom men.» Sei ne Hof fnu ng schwindet wie der Notgroschen, der seine Familie über Wasser halten sollte. Jeden Tag erkundigt er sich, wann es denn nun so weit sei und ob es für ihn und seine Familie endlich einen Platz gebe an Bord. Und jeden Tag bekommt er dieselbe fadenscheinige Antwort: sobald das mit dem Geld geregelt sei.
Man habe das Geld doch bezahlt, sagt Jakob dann. Viel Geld. Ein Vermögen für einen einfachen Mann wie ihn. Dass er es selber nie im Leben hätte aufbringen können, sagt er nicht. Das lässt sein Stolz nicht zu. Strafe genug, dass er seine Familie nicht mehr ernähren konnte und deshalb gar keine andere Wahl hatte, als es in der Fremde zu versuchen. Er hat gekämpft, aber die Natur war stärker. Die letzte Missernte hat ihm schliesslich das Genick gebrochen.
Jakob hat aufgegeben wie sein Bruder Johann, mit dem er den armseligen Hof bewirtschaftet hatte und der mit seiner Familie ebenfalls darauf wartet, endlich an Bord irgendeines Schiffes gehen zu können. Deshalb steht Jakob jetzt hier am Hafen und schaut hinaus aufs Meer, vor dem er sich fürchtet und das trotzdem seine letzte Hoffnung ist, weil am anderen Ende das gelobte Land liegt. Als er plötzlich aufgefordert wird, seine Familie an Bord des Schiffes zu bringen, das in der Nähe vor sich hindümpelt, weiss er nicht, ob er sich freuen soll. Hört das denn nie auf? Elisabeth würde am liebsten sterben. Hätte sie noch irgendetwas im Magen, sie würde es erbrechen.
3 – Elisabeth
Und so wie ihr geht es fast allen Menschen in diesem dunklen Raum im Innern des Schiffs. Auf Deck gehen dürfen sie nicht, weil das zu gefährlich wäre. Haushoch türmen sich die Wellen, und das Schiff droht immer wieder zu kentern. Dann fängt es sich plötzlich auf – nur um sich wieder bedrohlich auf die andere Seite zu neigen. Das geht nun schon seit Tagen so. Wobei Elisabeth keine Ahnung hat, wie viele Tage sie bereits unterwegs ist.
«Halte dich gut fest!», hat ihr Vater am Anfang gesagt. Aber das musste sie nicht. Es ist so eng, dass sie ohnehin nirgends hinfallen könnte. Es stinkt fürchterlich im Raum, durch den kaum ein Lüftchen weht, weil die Luken geschlossen sind, damit er nicht mit Wasser geflutet wird.
Elisabeth schaut sich müde um. Neben ihr liegt der kleine Joseph, dem es noch schlechter geht. «Armer Joseph», sagt sie und fährt ihrem sechsjährigen Bruder durch die verfilzten Haare. Elisabeth hat keine Ahnung, wann sie sich zum letzten Mal waschen konnten. Der ganze Körper juckt, doch sie ist zu müde zum Kratzen.
Wasser ist zum Trinken da, nicht zum Waschen, sagen sie hier. Obwohl es so schmeckt, als ob damit Wäsche gewaschen wurde. Jemand erzählte, dass sie alle krank würden, wenn sie weiterhin so schlechtes Wasser trinken würden. Aber etwas anderes gibt es nicht. Ausser für die Grossen. Die trinken auch mal Wein und Rum. Manche trinken so viel davon, dass sie umfallen und wie tot liegenbleiben. «Sie trinken sich das Leben schön», sagt Elisabeths Mutter dann.
4 – Joseph
Wenn sie dem Kleinen doch nur etwas Anständiges zu essen geben könnte, denkt Maria. Seit Wochen gibt es ein Gebräu aus Erbsen, Linsen, weissen Bohnen oder Gerste, mal ist es Reissuppe, manchmal kommt ein Hering hinzu, aber den mögen die Kinder nicht. Jeden Tag kauen sie auf schwarzem Zwieback und gepökeltem Fleisch herum, das nach allem Möglichen schmeckt, nur nicht nach – zu Hause. Zum Trinken gibt es eine schwarze Brühe, die man hier Kaffee nennt, und eine grünliche, die Tee sein soll.
All das würde sie ertragen. Aber es ihren Kindern zumuten, die täglich kränker aussehen? Vor allem der kleine Joseph, der kaum noch sprechen kann. Seine traurigen braunen Augen blicken ins Leere. «Durchhalten, Joseph», sagt Maria dann und streicht ihm sanft über die bleichen Wangen.
Seit sieben Wochen schaukeln sie nun schon über den Ozean. Wenn das nicht bald ein Ende nimmt, werden die Kleinen die Reise nicht überleben. Immerhin scheint jetzt die Sonne, und es heisst, man sei bald am Ziel.
«Und dann?», fragt sich Maria. «Was dann?»
Es ist Dienstag, der 16. Mai 1854, als Jakob und Maria Stöckli-Menz aus Muri mit ihren vier Kindern in New York von Bord des Dreimasters St. Petersburg gehen, gut 14 Wochen nachdem Sie das Freiamt verlassen haben. Siebeneinhalb Wochen waren sie auf See.
5 – Amerika
Sie sind gezeichnet von den Strapazen der Reise. Ein Wunder, lässt man sie überhaupt einwandern, denn man hat in der neuen Welt kein Interesse an Armen und Kranken. Doch man winkt die Stöcklis durch und überlässt sie ihrem Schicksal, das diese mutig an die Hand nehmen.
Es muss ihnen wie Weihnachten vorgekommen sein, als sie in New York wieder festen Boden unter den Füssen hatten. Sie haben das Geschenk, neu anfangen zu dürfen, dankend angenommen und das Beste daraus gemacht: Noch heute leben Nachfahren von Schreiner Stöckli und seiner Frau Maria in den USA, die ihnen zur neuen Heimat geworden ist.
Der sechsjährige Joseph lernt diese allerdings nicht mehr kennen. Er stirbt kurz nach der Ankunft in Amerika.
Der Historiker und Autor Christoph Zurfluh lebt in Muri. Sein Stück «Ameri- ka», das – wie unsere Weihnachtsgeschich- te – von der Freiämter Auswanderung 1854 handelt, wird im Sommer 2020 als Freilichttheater im Klosterhof aufgeführt.