«Wer zieht überhaupt nach Wohlen?»
25.10.2019 EinwohnerratDie grösste Freiämter Gemeinde verzeichnet ein grosses Bevölkerungswachstum: Sind da auch gute Steuerzahler dabei?
Das Bemühen, gute Steuerzahler nach Wohlen zu lotsen, wird im Einwohnerrat immer wieder diskutiert. Denn Wohlen braucht mehr Einnahmen, um ...
Die grösste Freiämter Gemeinde verzeichnet ein grosses Bevölkerungswachstum: Sind da auch gute Steuerzahler dabei?
Das Bemühen, gute Steuerzahler nach Wohlen zu lotsen, wird im Einwohnerrat immer wieder diskutiert. Denn Wohlen braucht mehr Einnahmen, um die grossen Investitionen zu stemmen. Eine Patentlösung haben nur die wenigsten.
Daniel Marti
Steigende Ausgaben, Investitionen deutlich über der 100-Millionen-Marke, zu wenig Einnahmen, bald sehr hohe Schulden und die Infrastruktur im schlechten Zustand – und trotzdem ein Bevölkerungswachstum. Wohlen, die selbst ernannte Freiämter Metropole, steht vor aufregenden Zeiten. Finanziell und politisch. Wie bekommt man den Finanzhaushalt, der vor allem ein Einnahmeproblem hat, in den Griff? Dieser Frage gehen die Vertreter von Einwohnerrat und Gemeinderat intensiv nach. SVP-Einwohnerrat Jonathan Nicoll fordert beispielsweise, dass man mit «unternehmerischer Haltung» auch eine Vision entwickeln dürfe (siehe Artikel unten).
«Sind das denn alles nur ‹armi Sieche›?»
In den letzten dreieinhalb Jahren ist Wohlen um über 1000 Einwohnerinnen und Einwohner gewachsen. Ende 2015 wurden 15 639 Einwohner gezählt, Ende August 2019 waren es 16 670. Da müssen ja – rein theoretisch – auch ein paar gute Steuerzahler dabei sein. Diese Erkenntnis wurde an der letzten Einwohnerratssitzung diskutiert – bis SP-Einwohnerrat Sepp Muff schier der Kragen platzte. «Wer kommt überhaupt nach Wohlen», wollte das dienstälteste Ratsmitglied wissen und wechselte zur harten Formulierung über. Sind das denn alles nur «armi Sieche»?
«Nein, nein», wehrte sich Gemeindeammann Arsène Perroud, «es sind nicht nur schlecht verdienende Personen, die nach Wohlen ziehen.»
Das ist die allgemeine Wahrnehmung des Gemeindeammanns. Kann man diese allenfalls mit Fakten erhärten? Was bringt das Bevölkerungswachstum? Gibt es eine Registrierung, damit man weiss, ob gut oder schlecht Verdienende nach Wohlen ziehen?
Repräsentative Auswertung
«Die Einwohnerkontrolle registriert alle Einwohnerinnen und Einwohner sowie deren Zuteilung zu den Objekten, sprich Wohneinheiten», so Perroud, «eine Differenzierung nach Einkommensklassen kann allerdings nicht vorgenommen werden.» Es gibt keine gesetzliche Grundlage, diese Daten bei der Einwohnerkontrolle zu erfassen.
Perroud weiter: «Ausgewertet werden die Steuererträge der natürlichen Personen, indem die Eintritte und Austritte der Steuerpflichtigen erfasst werden.» Die Auswertung nimmt allerdings keine Rücksicht, ob die entsprechenden Veranlagungen provisorisch oder definitiv vorgenommen wurden. «Sie ist aber repräsentativ», betont der Gemeindeammann. «In den Jahren 2016 bis 2018 fiel die Bilanz zwischen den Eintritten und den Austritten immer leicht zugunsten der Gemeinde Wohlen aus. Das heisst, dass der Einkommenssteuerertrag immer angestiegen ist.» Perroud kann noch eine weitere interessante Feststellung machen: «In den Kategorien zwischen steuerbarem Einkommen von 100 000 bis 150 000 Franken war das Wachstum prozentual im genannten Zeitraum am grössten.»
Weitere Informationen für die Öffentlichkeit gibt es nicht. Der Gemeinderat hat vom Gesetz her keinen Zugang zu Einkommensdaten.
Pro-Kopf-Steuerertrag gestiegen
Der Pro-Kopf-Steuerertrag hat sich in den Jahren 2014 bis 2018 tatsächlich positiv entwickelt – halt auf einem tiefen Niveau. Von 2073 Franken (im Jahr 2014 mit Steuerfuss 113 Prozent) auf 2121 Franken (im Jahr 2018 mit Steuerfuss 110 Prozent). In den letzten drei Jahren war gemäss Perroud das steuerliche Wachstum bei den steuerbaren Einkommen zwischen 100 000 und 150 000 Franken am grössten. Weil bei der Steuerbemessung zahlreiche andere Faktoren mitspielen – wie die Erhöhung des Eigenmietwerts oder die sinkenden Kapital- oder Hypothekarzinsen –, kann über die Ursachen «letztlich nur spekuliert werden. Fakt ist, dass unter dem Strich der Pro-Kopf-Steuerertrag steigt und das für Wohlen eine positive Entwicklung darstellt.»
Strukturproblem ist nur langfristig lösbar
Im Zusammenhang mit dem tiefen Steuerertrag und der Hoffnung, gute Steuerzahler nach Wohlen zu lotsen, wird oft das strukturelle Problem der Gemeinde Wohlen thematisiert. Viele Einwohner zahlen nur wenig Steuern. Wie kann dieses Problem gelöst werden?
Gemäss Perroud ist zu berücksichtigen, dass sich der Pro-Kopf-Steuerertrag auf alle Einwohner bezieht und nicht bloss auf die Steuerpflichtigen. «Auch Kinder, Jugendliche und ältere Personen sind dabei berücksichtigt, die kein oder nur wenig Einkommen erzielen.»
Somit sei der Zuwachs der Bevölkerung nach Altersgruppen von grosser Bedeutung für die Entwicklung des Steuerertrags. Den grössten Zuwachs verzeichnen die Altersgruppen zwischen 0 und 14 Jahren sowie ab 55 Jahren. «Im Vergleich zu anderen Aargauer Gemeinden nimmt der Anteil der jüngeren Jahrgänge in Wohlen stärker zu.»
Gemeindeammann Perroud kann keine sofortigen Verbesserungen in Aussicht stellen. «Das Wohler Strukturproblem ist kurzfristig nicht lösbar. Seit Jahrzehnten ist das wirtschaftliche Wachstum im restlichen Kanton Aargau höher als in der Region Wohlen. Es ist nicht realistisch, dass die Region Wohlen kurzfristig im umgekehrten Sinne ein grösseres Wirtschaftswachstum erleben wird als die Gemeinden im Kanton Aargau im Durchschnitt.»
Mit der Erarbeitung eines regionalen Standortförderungskonzepts in Zusammenarbeit mit umliegenden Gemeinden will der Gemeinderat Wohlen «die Wirtschaft in der Region Wohlen langfristig steigern und die Anzahl gut qualifizierter Arbeitsplätze sichern und erhöhen». Auch dem Gemeindeammann ist bewusst, dass einkommensstarke Neuzuzüger vor allem mit attraktivem Wohnraum angelockt werden können. «Nur», räumt Perroud ein, «in Wohlen besteht vergleichsweise viel baulich vernachlässigter Wohnraum.» Und hier beginnt der Teufelskreis. Vernachlässigter Wohnraum führt zu «verhältnismässig tiefen Mietpreisen, die Personen mit eher bescheidenen Einkommensverhältnissen anziehen». Ob und wann die Eigentümerschaft ihre Liegenschaften saniert, «das kann der Gemeinderat nicht vorschreiben».
Wichtig ist der verfügbare Wohnraum
(SVP) Jonathan Nicoll zur Finanzlage der Gemeinde und zur Diskussion um gute Steuerzahler
«Schaut in die Welt hinaus», forderte Einwohnerrat Jonathan Nicoll an der letzten Einwohnerratssitzung von seinen Ratskollegen. Man müsse den Druck von Zürich aus betrachten. Auch deshalb sei es wichtig, in Wohlen attraktiven Wohnraum zu schaffen.
Der SVP-Politiker, Bankdirektor in Zürich, betrachtet sein Votum vor allem als «Weckruf an unsere Finanzpolitik und die Zukunft in Wohlen», den sogenannten «Turnaround» zu schaffen. Aber: Wie hat er das gemeint, sieht er gangbare Wege?
Das Ziel sei eine «nachhaltige, gesund finanzierte Gemeinde mit intakter Infrastruktur», stellt er klar, aber noch wichtiger sei ein «verfügbarer Wohnraum, der den heutigen Wohnmodellen entspricht». Dieser Wohnraum müsse vor allem den Ansprüchen von Familien mit Kindern in Wohlen gerecht werden.
Muss die Infrastruktur vergoldet werden?
Zur Finanzlage von Wohlen. Finanzministerin Arianne Gregor forderte an der letzten Einwohnerratssitzung, dass Wohlen den Gürtel enger schnallen müsse. Jonathan Nicoll entgegnet, dass Wohlen die jährlichen Budgetkosten mit den Einnahmen aktuell decken könne. «Das Hauptproblem sind im Moment nicht die laufenden Kosten, sondern das ignorante Verhalten einzelner Politisierender, die der Meinung sind, wir müssten unsere Gemeinde infrastrukturtechnisch vergolden.» Es sei immer die Rede davon, es sei «nie investiert, sondern alles zurückgestellt» worden. Nicoll stellt da eine andere Frage: «Ist Wohlen so stark vom Ortszerfall betroffen? Obwohl Fremdkapital günstig ist, heisst das doch nicht, dass wir all unsere Wünsche zusammentragen und anstelle von 60 bis 80 Millionen Franken gleich 140 Millionen Franken an Investitionen während den kommenden Jahren ausgeben, wohlverstanden Fremdkapital.»
Dass als Folge dieser Investitionen mögliche Neuzuzüger den Weg nach Wohlen finden, «ist eine absolute Illusion», so Nicoll weiter. Nicht alleine das Qualitätsniveau der Infrastruktur sei dabei ausschlaggebend. «Eine künftig gesunde Finanzlage und nach aussen getragen eine attraktive Wohngemeinde sind nur in Abhängigkeit mehrerer Faktoren erfolgreich umsetzbar.» Nur wenn die Gemeinde Wohlen ihre Investitions- und Ausgabepolitik «kritisch überdenkt und fokussiert priorisiert», können zukünftige Ertragseinnahmequellen entwickelt werden.
Jonathan Nicoll nennt drei wesentliche Punkte, die zu verbesserten Einnahmen führen können: 1. Mit einem Finanzplan, der in den nächsten fünf Jahren klare Prioritäten der Investitionen und Ausgaben definiert. – 2. Mit einem Raum-«Wohnplanungskonzept», das Wohlen als Wohnort noch interessanter macht. – 3. Mit einem Steuerfuss, der nicht stetig künstlich erhöht wird, nur weil man mit dem heute günstigen Geld ein ganzes Wunschprogramm so verpackt.
Der aktuelle Weg von Zürich ins Freiamt
Der Neuzuzug von wohlhabenden Steuerzahlern wird auch von Jonathan Nicoll thematisiert. Aus finanzieller Sicht gesehen sei man wohlhabend mit Vermögen, aber nicht mit hohem Einkommen. «Würde man in Wohlen den Steuerfuss senken, würde das alleine nicht ausreichen, damit die Einkommensstarken nach Wohlen ziehen», weiss auch der Finanzexperte, «dies wäre nur in Kombination mit attraktivem Wohnraum denkbar.»
Den von ihm bei der letzten Einwohnerratssitzung angesprochenen Blick Richtung Zürich nimmt er gerne vor und kommt dabei zu den folgenden Erkenntnissen: «Die Knappheit an Boden, die Wartelisten bei Mietwohnungen, die steigenden Mietpreise während den letzten Jahren und die zusätzlichen internationalen Zuzüger im Kanton Zürich führen viele Einzelpersonen wie auch Familien mit Kindern ins Knonaueramt, Säuliamt und seit ein paar Jahren nun auch vermehrt ins Freiamt.» Mit diesen Veränderungen in den städtischen Agglomerationen sollten sich auch die Behörden hier in Wohlen beschäftigen. Und die zentrale Frage lautet: «Wie sieht unsere Raumplanung ganzheitlich aus, um solche Neuzuzüger mit deren Wohnansprüchen nach Wohlen zu locken?»
Im Fokus sollte die Zunahme der Anzahl Steuerbeitragszahler sein. Laut Nicoll gibt es keine sogenannt «besseren Steuerzahler» per Definition. «Man muss auch nicht Wohneigentümer sein, um ein guter Steuerzahler zu sein. Es gibt in Wohlen auch einkommensstarke Personen, die nicht viel Steuern bezahlen und genauso gibt es Ledige, Konkubinatspaare und Pensionierte, die einen sehr wichtigen Steuerbeitrag an die Gemeinde entrichten.» Eine Zunahme der Anzahl stärkerer Steuerbeitragszahler wird «nur über Zeit und infolge der zunehmenden Attraktivität des Wohnraumes» erfolgen.
Besseres Image gefordert
Die Kritik des SVP-Einwohnerrates gilt auch dem Image von Wohlen nach aussen. «Im Aargauer Gemeinderanking liegt Wohlen seit Jahren im untersten Drittel», betont er, «wohlverstanden wird dieses Ranking nicht durch Wohler Politiker bestimmt.» Vergleiche mit Städten wie Aarau und Baden seien unrealistisch. Dort sei das Spielfeld ein ganz anderes als im Freiamt. Darum soll sich Wohlen auf das konzentrieren, was «uns als Gemeinde nach aussen attraktiver» macht. Jonathan Nicoll: «Attraktiver Wohnraum bezieht sich nicht nur auf eine Eishalle und eine Badi mit der längsten Rutschbahn im Freiamt, sondern primär auf das Angebot zum Wohnen.» Damit meint er vor allem das Angebot an Bauland, Eigentums- und Mietwohnungen sowie verbesserte Strassenverkehrsanbindungen, optimale Bus- und Bahnverbindungen, das Angebot an guten Schulen sowie diverse weitere Freizeit-Infrastrukturen. Stimmen diese Kriterien, «dann ziehen auch Neuzuzüger nach Wohlen».