«Keine Liebe ohne Leiden»
05.04.2019 SinsGesprächspodium zum Thema «Leiden» in Sins
Anlässlich der Fastenzeit lud der Pastoralraum Oberes Freiamt zu einem Gesprächs- und Begegnungsabend. Unter der Moderation von Pius Vogel entstand ein interessanter, authentischer und sehr ...
Gesprächspodium zum Thema «Leiden» in Sins
Anlässlich der Fastenzeit lud der Pastoralraum Oberes Freiamt zu einem Gesprächs- und Begegnungsabend. Unter der Moderation von Pius Vogel entstand ein interessanter, authentischer und sehr berührender Austausch zwischen vier Betroffenen.
Leiden, Trauer, Hoffnung und Liebe. Oft werden diese Themen in Zusammenhang mit der Fastenzeit gebracht. Deshalb habe man das «Leid-Thema» aufgegriffen, erklärt Andres Lienhard, Pastoralassistent und Organisator des Podiums. «Das Leiden und der Tod gehören zum Leben. Sehr alltäglich und doch speziell und nicht öffentlich», so Lienhard.
An dem Gesprächspodium nahmen vier Betroffene teil: Barbara Gnädinger, Sins, diplomierte Pflegefachfrau, Zusatzausbildung Palliative Care. Andres Lienhard, Dietwil, ehemaliger Spitalseelsorger, Pastoralassistent. Esther Erni, Cham, wegen Krankheit im Rollstuhl, und Robert Barrer, Muri, der drei Familienangehörige verlor.
Macht Leiden Sinn?
«Zum Leben gehört leiden dazu», davon ist Barbara Gnädinger überzeugt. Würde einem nur Gutes widerfahren, dann würde man es als selbstverständlich ansehen. Aber oft sieht der vom Leid Betroffene den Sinn nicht dahinter. «Leiden kann man nicht als sinnvoll anschauen», setzt Andres Lienhard an. «Keiner wünscht es sich, doch man kann das Beste daraus machen», stellt Esther Erni fest. Zusammen mit anderen den Leidensweg zu gehen, helfe ungemein. «Geteiltes Leid ist halbes Leid.»
Esther Ernis Leidensweg begann in der fünften Klasse. Sie hatte motorische Schwierigkeiten, nur nahm diese niemand ernst. «Reiss dich zusammen», bekam sie oft zu hören. «Es ist ein enormer Druck entstanden.» Neun Jahre vergingen, bis endlich die Diagnose gestellt werden konnte. «Man liest es schwarz auf weiss und irgendwie war ich froh darüber.» Die Dankbarkeit sei bei ihr wiedergekommen. Man lerne mit der Krankheit zu leben, damit umzugehen und weiterzugehen. Die Musik, Freunde und Familie haben ihr viel Kraft gegeben. «Ich konzentriere mich auf das, was ich noch kann. Ich nehme mein Schicksal an und hoffe, dass ich nach meinem Tod wieder all das machen kann, was ich jetzt nicht mehr kann. Ich freue mich auf die Zeit, ich bin parat.»
Es gibt immer Hoffnung
Bei den Bewohnern, die Barbara Gnädinger im Zentrum Aettenbühl bis zum Tod begleitet, sind die Reaktionen auf Diagnosen immer mit einem Schock verbunden. In Sätzen wie: «Heute kann ich ohne Schmerzen aufstehen» oder «Heute schmeckt mir mein Essen» stecke Hoffnung. «Hoffnungslos zu sein wäre bodenlos. Viele fürchten nicht den Tod, sondern das Leiden des Sterbens.» Deshalb werde alles unternommen, das Sterben so schmerzlos wie nur möglich zu gestalten. «Ich bin für sie da, höre ihnen zu und helfe ihnen, wo ich kann.»
Der Fall in ein tiefes Loch
Robert Barrers Leidensgeschichte begann im Jahr 2000, als seine Tochter Olivia bei der Geburt starb. 2016 verlor er seine Mutter und kurze Zeit später musste er von seiner Frau Abschied nehmen. «Kein Leben besteht nur aus schönen Erlebnissen. Was in meinem Leben passiert, muss ich versuchen, anzunehmen. Es gibt Dinge, die man nicht ändern kann, auch sie gehören in meinen ‹Rucksack›.» Nichtsdestotrotz: «Zuerst fiel ich in ein tiefes Loch. Als mich die Polizei anrief, um mir mitzuteilen, dass meine Frau verstorben ist, liefen tausend Sachen in meinem Kopf ab. Da waren Wut, Trauer, aber auch viele Termine und Dinge, die erledigt werden mussten. Plötzlich ging alles drunter und drüber. Da war gar kein Platz, sich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Das erste Mal brach ich zusammen, als der Letzte die Türe hinter sich schloss und ich allein war.»
Zeit für Mitmenschen nehmen
Doch in all dem Leid und der Trauer habe er auch sehr viel Positives erfahren. Sein gesamter Freundeskreis und viele aus dem Dorf nahmen Anteil an seinem Schicksal. «Das Haus war nie leer und das ist auch heute noch so.» Die Familie und Freunde würden einen mittragen. Doch die Trauer ist allgegenwärtig. Man sieht einen Gegenstand und plötzlich übermannt es einen. «Das ist heute noch so. Ich fühle mich mit meiner Frau noch immer verbunden, doch sie ist nicht mehr da. Ich muss das annehmen. Ich habe viele Gespräche geführt. Das Reden half mir, mich zu orientieren, Sachen abzuschliessen, die ich nicht mehr ändern kann. Die Unterstützung und Liebe meiner Mitmenschen, die meine Tochter und ich in unserem Leid erfahren durften, möchte ich weitergeben. Deshalb gehe ich auch mit offenen Augen durch die Welt. Ich bin emotionaler geworden. Ich spüre, wenn es einem anderen nicht gut geht. Ich nehme mir Zeit für meine Mitmenschen.»
Die Liebe bleibt
Leiden ist subjektiv. Darum gibt es auch die unterschiedlichsten Hilfsmittel: Zuhören, Dasein, den Leidensweg gemeinsam bestreiten. Man muss versuchen, einen Zugang zum Leidenden zu finden. «Der Betroffene muss sich in erster Linie mit sich selbst befassen. Der Trost muss im Menschen selbst wachsen», davon ist Andres Lienhard überzeugt.
Für jeden Menschen gibt es einen Weg, doch die Kraftquellen müssen gefunden werden. «Mein Auftrag ist es, bei der Suche zu helfen. Dabei geht es nicht darum, meinen Glauben durchzusetzen, sondern einen Zugang zu ihm zu finden. Es gibt Menschen, die finden ihren Weg schneller. Der Wille dazu muss da sein, nur dann kann dem Betroffenen geholfen werden. Es gibt keine Liebe ohne Leiden. Leiden kann einen weiterbringen, muss es aber nicht.» --sus

