Von Ohrfeigen und Umarmungen
23.05.2018 SportReportage: Unterwegs mit dem FC Wohlen an das letzte Spiel in der Challenge League in Chiasso
Sieben junge Kicker des FC Wohlen haben sich im Kreis versammelt. Verteidiger Dragisa Gudelj haut Mittelfeldspieler Yannik Wiget eine Ohrfeige. Die Fussballer heulen auf. ...
Reportage: Unterwegs mit dem FC Wohlen an das letzte Spiel in der Challenge League in Chiasso
Sieben junge Kicker des FC Wohlen haben sich im Kreis versammelt. Verteidiger Dragisa Gudelj haut Mittelfeldspieler Yannik Wiget eine Ohrfeige. Die Fussballer heulen auf. «Viel zu stark. Spinnst du?», schreit Wiget. Als Nächstes kriegt Wiget von Matteo Pasquarelli eine Backpfeife gezimmert. Oliver Kleiner und Jan Elvedi verpassen ihm ebenfalls eine Schelle.
Stefan Sprenger Stefan Sprenger
Keine Sorge – Wiget wird nicht gemobbt von seinen Mitspielern, ihm geht es gut. Er hat nur ein Spiel verloren, das ein Teil der Mannschaft auf der langen Carfahrt von Chiasso nach Hause als Zeitvertrieb spielt. Wiget hat verloren, weil er keine Antwort mehr wusste. Jeder der Teilnehmer musste eine Automarke nennen – wer etwas wiederholt oder innert fünf Sekunden keine Antwort gibt, hat das Spiel verloren. Und kriegt als Strafe unter lautem Gejohle der Teamkollegen mehrere Ohrfeigen verpasst. Die Jungen, die hinten im Car sitzen, verteilen Ohrfeigen, spielen «Uno», reden miteinander oder drücken auf dem Handy herum. «Snapchat», «Facebook» und so.
«Gut gewürzter Furz»
Die «Alten» sitzen vorne. Auf dem Heimweg trinken sie ein paar Bier. Sandro Foschini zeigt auf seinem Laptop ein paar Fussballvideos auf «Youtube», über die diskutiert wird. Die Routiniers reden miteinander, sie lachen und diskutieren. Und – als ein etwas fauliger Geruch durch den Bus strömt – fragen sie sich, wer denn diesen Furz wohl losgelassen hat. Egal wer es war, «gut gewürzt» sei er auf jeden Fall, meint Alain Schultz.
Die Stimmung auf der Heimfahrt ist locker, gelöst, befreit. Trotz 45-minütigem Stau am Gotthard. Auf der Hinfahrt war dies noch anders, ganz anders. Um 10.02 Uhr fährt Chauffeur Ueli Brütsch mit dem Car und seinen 23 Passagieren los. Ziel: Chiasso. Um 16 Uhr wird das Spiel angepfiffen. Mit dabei sind 15 Spieler, Präsident Lucien Tschachtli, Geschäftsstellen-Leiterin Serena Forgione, Masseur Roland Huber, Trainer Ranko Jakovljevic, Co-Trainer Piu, zwei Chauffeure – und der Journalist dieser Zeitung. Einige gestandene Spieler fehlen und kommen nicht mit. Igor Tadic und Sead Hajrovic sind gesperrt. Marko Bicvic und Janko Pacar sind verletzt. Schade, begleiten sie das Team nicht auf der letzten Fahrt.
Auf den ersten Kilometern durchs Freiamt herrscht tolles Wetter. Die Aussicht auf die Berge – blendend. Es ist ruhig im Car. Sehr ruhig. Der 30-jährige Sandro Foschini bricht die Ruhe. «Hat jemand den Eishockey-Final gesehen?», fragt er in die Runde. Niemand will so richtig reden. Vielleicht sind die Mitspieler müde, vielleicht konzentriert, vielleicht nachdenklich. Foschini wird dann gefragt, wie er sich denn fühlt. «Heute ist kein normaler Tag. Es ist mein letztes Spiel als Profi», antwortet er. Nach 267 Challenge-League- und 18 Super League-Spielen (beim FC Luzern) ist er am Ende dieses Tages kein Profi mehr. Was er nächste Saison macht, weiss er noch nicht definitiv. Vermutlich ein, zwei Ligen tiefer spielen. «Und langsam den Weg ins normale Arbeitsleben finden», sagt Foschini.
Spieler winkt Senioren zu
Um 11.40 Uhr passiert der FC-Wohlen-Car das Gotthard-Nordportal – ohne Stau. 17 Kilometer später ist man auf der anderen Seite, im Tessin. Chauffeur Ueli überholt einen deutschen Reisecar, gefüllt mit Senioren. Foschini winkt freundlich hinüber. Schultz sagt: «Die kommen auch ans Spiel in Chiasso.» Trainer Ranko Jakovljevic, der am vordersten Platz sitzt, ruft lachend nach hinten: «Vielleicht stürmen die den Platz.» Um 12.43 Uhr fährt der Car auf den Vorplatz des Hotels Delfino in Lugano. Mittagessen. Es gibt Suppe. Na ja. Es gibt Pasta. Sehr lecker. Die Mannschaft geht anschliessend spazieren.
Jakovljevic und der Psychiater
Trainer Jakovljevic bleibt sitzen – und erzählt von der schwierigen Rückrunde. Nur fünf Punkte gab es. Total 54 Gegentore. Es gab viele Klatschen, viele Spiele, die demütigend wirkten. «Vieles lief gegen uns», sagt Jakovljevic. Seitdem der FC Wohlen im Januar den Entscheid des Rückzugs aus der Challenge League publik machte, war die Motivation des Teams verständlicherweise im Keller. «Wir haben es versucht. Aber eben: Es war schwierig.» Dann sind Spieler gegangen. Kuzmanovic, Cvetkovic, Hofer. Das Kader schrumpfte, die Motivation auch. Das Ziel, sportlich den Ligaerhalt zu schaffen, wurde zur unüberwindbaren Hürde. Manchmal dachte er, er brauche einen Psychiater. Für sich, für die Spieler. Etwas passt Trainer Jakovljevic, der nächste Saison den FC Baden trainiert, ganz und gar nicht: «Dass wir kein einziges Spiel mehr in der Rückrunde gewonnen haben, nervt mich enorm.» Er nimmt einen Schluck vom Kaffee, blickt hinaus auf den Hotel-Pool und sagt: «Nach diesem Entscheid im Januar und mit diesem Rumpfteam ist es aber keine Überraschung, dass wir nicht mehr gewinnen konnten.»
Das Bier wird warm
Um 14 Uhr geht es weiter nach Chiasso. Um 14.25 Uhr ist man im Stadion «Riva IV» angekommen. Die Spieler begutachten den Rasen, ziehen sich um. Die Jungen füllen die Wasserbidons auf. Es folgt eine kurze Teambesprechung. Das Team läuft sich ein.
Währenddessen kümmern sich die Geschäftsstellen-Leiterin Serena Forgione und der Journalist dieser Zeitung um heftige Probleme. Im Stauraum des Cars liegt eine Kiste Bier. Und weil die Sonne bedingungslos an den Bus brennt, wird das Bier wärmer und wärmer. Das Bier muss gekühlt werden, und zwar sofort. Schliesslich sollen die Spieler nach dem letzten Saisonspiel ein kühles Blondes geniessen können. Das Bier wird gerettet und vom Journalisten im Kühlschrank des FC-Chiasso-Stadionrestaurants untergebracht.
Im Restaurant sind bereits eine Stunde vor Spielbeginn einige FCW-Fans auszumachen. FCW-Catering-Chef Ramon Coira und seine Frau zum Beispiel. Oder Hans Hübscher, der sogar am letzten Challenge-League-Spiel das Kunststück hinkriegt, einen neuen Donator für den FC Wohlen zu gewinnen.
Um 16 Uhr wird die Partie angepfiffen. Im Stadion sind über 60 FCW-Anhänger unter den 400 Zuschauern. Mindestens 40 davon sind mit einem Fancar angereist. Die Fans enthüllen zum Anpfiff ein Banner: «Nach 16 Johr isch es Zit zom Abschied neh... um denn i de neue Liga weder alles z geh!»
Der FC Wohlen drückt dann in der ersten Halbzeit enorm aufs Tempo – aber zeigt sich wenig clever. «Sieben Grosschancen habe ich notiert», sagt Trainer Jakovljevic in der Halbzeit. Er fügt erzürnt an: «Sieben! Sieben Grosschancen. Unglaublich.» Denn der FC Wohlen, der klar besser spielt als der Gegner, liegt mit 0:2 hinten. Chiasso erzielte zwei Tore aus dem Nichts. Es ist erdrückend, unfair – und vor allem erniedrigend für die Freiämter, die sich im ersten Durchgang grosse Mühe geben und eigentlich alles richtig machen – ausser dem Toreschiessen. Am Ende steht es 0:3. Eine Ohrfeige. Der Trainer ist sauer auf Schiedsrichter Gut (übrigens ein Tessiner), die Spieler gehen mit gesenktem Kopf zu den Fans und verabschieden sich endgültig aus der Challenge League. Auf der Haupttribüne stehen vier ältere Chiasso-Anhänger und jubeln den Wohlern euphorisch zu: «Grazie FC Wohlen. Ciao. Ciao.»
Nati-Aufgebot für Pasquarelli
Die Spieler beeilen sich dann alle mit duschen. Es hat Stau am Gotthard und man will ja irgendwann vor Mitternacht wieder zu Hause sein. Co-Trainer Piu geht mit der Familie und Freunden direkt nach Mailand, um sich das Abschiedsspiel von Andrea Pirlo im San Siro anzusehen. Piu und Captain Schultz werden auch in der neuen Saison dabei sein.
Der Car fährt los und stoppt wenige hundert Meter später wieder bei einer Tankstelle. Einkaufen. Dies sei eine absolute Ausnahme, normalerweise fährt man durch, heisst es. Die Fahrt wird wohl vier Stunden dauern, also braucht es wohl auch noch mehr Bier, oder? «Nein», sagt Sandro Foschini. «20 reichen». Nur 20 Bier, bei 15 Spielern plus Präsident, Trainer und Masseur. Foschini nickt erneut und sagt augenzwinkernd: «Deswegen gewinnen wir nicht. Wir trinken zu wenig Bier.»
Wenig später ist der FC-Wohlen-Car im Stau angelangt. Und Matteo Pasquarelli, 19 Jahre alt, sagt den Satz: «Wir Jungen trinken kein Bier, das ist doch altmodisch.» Das gehöre zum Teamspirit ruft einer der älteren Spieler nach hinten. Pasquarelli hat momentan gut lachen. Er ist wohl der Lichtblick in einer tristen Rückrunde des FC Wohlen. Das Eigengewächs aus Merenschwand erhielt vor Kurzem ein Aufgebot für die U20-Nationalmannschaft. «Das freut mich riesig», sagt der Mittelfeldspieler. Was macht er nächste Saison? «Ich bleibe wohl in der Challenge League», sagt er. In der Rückrunde beim FC Wohlen habe er immer Gas gegeben «und versucht, mich zu zeigen». Dies ist dem Talent gelungen.
Der Dienstälteste geht zum FC Zürich
Auf der Heimfahrt wird viel geredet und gelacht. Präsident Lucien Tschachtli sagt: «Die Hinreise ist immer ruhig. Beim Heimfahren ist etwas mehr los.» Die Fussballer reden über die Zukunft. Für viele ist die Profikarriere vorbei und sie kicken in einer tieferen Liga weiter. Für einige geht es in der Challenge League weiter. Die meisten warten noch ab. Wie der Wohler Daniele Romano, der gerne Profifussballer bleiben möchte. Der 25-Jährige sagt: «Ich weiss noch nicht, ob es klappt. Mal schauen.» Für den Wohler ist das letzte Challenge-League-Spiel etwas sehr Spezielles. «Der Tag X ist da und das Märchen des FC Wohlen ist zu Ende», sagt Romano. Erinnerungen an früher kommen hoch. «Der Sprung in die Zehnerliga, mein Gott, das war riesig.»
Zwei Sitze vor Romano sitzt Goalie Flamur Tahiraj. 8,5 Jahre lang fuhr er fast jeden Tag nach Wohlen. «Ich habe so viel erlebt, so viele coole Typen kennengelernt. Der FC Wohlen hat mir so viel gegeben. Hier sind Dinge passiert, wobei man sich an den Kopf fassen muss. Aber auch viele Dinge, die sehr positiv waren.» Der 31-jährige Tahiraj wird den FC Wohlen verlassen. Er wird Goalietrainer des FC Zürich U16 und von den Frauen des FCZ. Tahiraj, dessen Partnerin schwanger ist, sagt mit ruhiger Stimme: «Ich wusste immer, wie gut ich es hier habe. Der FCW wird mir fehlen.»
Ibiza, Thailand, USA – und wem gehört das Spinningbike?
Nach dem Gotthard-Tunnel erzählen sich einige Fussballer von ihren Ferienplänen. Ibiza, Thailand, Amerika. Dragisa Gudelj, der bald in seine Heimat Holland zurückkehrt, erzählt davon, dass er seine Wohnung in Wohlen geräumt hat und irgendwie ein Spinningbike aufgetaucht sei. «Gehört es Ronny Minkwitz, der vor mir in dieser Wohnung wohnte?», fragt Gudelj. Die Antwort kennt niemand. Präsident Lucien Tschachtli diskutiert mit Trainer Jakovljevic über das Spiel. Serena Forgione erzählt, was sie an ihrer neuen Arbeitsstelle bei «Teleclub» für Aufgaben hat – und dass sie in einem kleineren Pensum vielleicht auch in der nächsten Saison noch beim FC Wohlen mithelfen wird. Und Captain Alain Schultz zieht nach 347 Challenge-League-Spielen Bilanz: «Für mich war es das letzte Spiel als Profi. Für den FC Wohlen das letzte Spiel in der Challenge League. Für mich geht es weiter mit dem Verein. Für viele ist es hier zu Ende. Das tut schon weh, wenn man weiss, dass es nun ein Abschluss ist.» Aber irgendwie – und das spürt man – ist Schultz auch froh, dass diese enorm schwierige Rückrunde zu Ende ist. Als er nach hinten in den Car blickt und sieht, wie Wiget von Gudelj gerade eine Ohrfeige kassiert, muss Schultz lachen. Wenig später ist der Car in den Niedermatten angekommen. Die Spieler umarmen sich. «Mach es gut», heisst es von überall. «Wir sehen uns.»



