Bremsen ist ein Fremdwort

  26.05.2021 Sport

Serie «Freiämter Olympioniken»: Fabio Caduff aus Wohlen, Vancouver 2010

Das Duracell-Häschen aus Anglikon tanzt auf vielen Partys. Fabio Caduff war schon immer ein Typ, der einfach gemacht hat. Und das ohne zu bremsen. Diese Eigenschaft bringt ihm viel Lebensfreude – und das Olympia-Ticket 2010. Wir erzählen nochmals seine Geschichte, obwohl er eigentlich nicht will.

Stefan Sprenger

«Ich will nicht in die Zeitung. Nicht schon wieder.» Mit ein wenig Überzeugungsarbeit ist Fabio Caduff dann doch dabei. Er ist ein Typ, der sich selbst nicht so wichtig nimmt. Er ist hilfsbereit, aufgestellt und dem Mittelpunkt ausweichend. Ein Mensch, der sich stets Gedanken macht, was er mit seinen Taten und Worten auslöst. Umweltbewusst und weitdenkend. Nur wenn er auf dem Schnee ist, nimmt er keine Rücksicht und donnert jeden Hang hinunter. Je steiler, desto geiler.

Sommerbar, Howatec, Umbau

Wir nehmen auch keine Rücksicht und stöbern im Zeitungsarchiv nach Fabio Caduff. Bei der Recherche fällt auf: Der 35-Jährige ist tatsächlich oft in der Zeitung zu finden. Und dies aus verschiedensten Gründen. Vor zehn Jahren, weil er mehrere Jahre der beste Snowboardcrosser der Schweiz ist. Und es als Flachländer an die Olympischen Spiele schafft. Später, weil er in Wohlen Handball spielt.

In den letzten Jahren fährt er aus unsportlichen Gründen in die Zeitung ein. Bei der «Sommerbar» oder dem «Zamba Loca» wird er als fleissiger Barchef erwähnt. Vor wenigen Monaten ist er gross mit seinem Vater abgebildet aufgrund der Geschäftsübernahme der «Howatec» in Mellingen. Vater Nino überlässt die Geschicke des über 30-jährigen Betriebs dem Sohn Fabio. Vor wenigen Tagen wird sein Name klein aufgeführt bei den Baubewilligungen der Gemeinde Wohlen. Er baut sein Zuhause um – so umweltbewusst wie möglich.

Apropos Umweltbewusstsein. «Ich komme wohl in die Klimajugendhölle», scherzt Caduff und erzählt eine Geschichte, die über zehn Jahre alt ist. Er reist an ein Snowboardcross-Rennen nach Südkorea. Vergebens. Ohne zu starten gehts zurück in die Schweiz. «Klimaneutral ist anders», sagt er. Der Wettkampf musste abgesagt werden. Die Rennpiste war nicht befahrbar.

Er wäre trotzdem runtergebrettert. Denn es gibt wohl keine Piste der Welt, die für Fabio Caduff zu steil oder zu schnell wäre. Sein Fahrstil war berühmt und berüchtigt: Möglichst schnell den Berg runter ohne zu bremsen. Und das war schon immer so. Er kann gar nicht anders.

Als kleiner Junge beginnt er mit dem Wintersport in Obersaxen im Bündnerland. Nicht unweit davon ist die Heimat seiner Vaters im romanischen Teil der Schweiz. «Ich wollte dazulernen und bin dem Skiclub Obersaxen beigetreten.» Quasi nebenbei war er leidenschaftlicher Handballer beim TV Wohlen. Mit 1,66 m Körpergrösse bleibt ihm die grosse Handballkarriere verwehrt, dafür nutzt er seine Wendigkeit auf dem Snowboard-Brett umso besser aus. Mit 18 Jahren macht er sein erstes Rennen. Caduff fährt den erfahrenen Fahrern davon und erreicht auf Anhieb eine Top-Platzierung.

Die Erfolgsgeschichte beginnt. 2005 folgt das erste grosse Ausrufezeichen: An der Junioren-WM fährt er auf den 5. Rang. Caduff kommt ins Förderprogramm von Swiss Olympic. Er schnupperte an der Olympia-Teilnahme 2006 in Turin. In den zwei Jahren danach macht er die Spitzensport-Rekrutenschule in Magglingen. «Eine geile und unvergessliche Zeit», meint er und fügt lachend an: «Ich konnte ein wenig Profisportler spielen.» Denn eigentlich tat er nur das, was er gerne macht: möglichst schnell den Berg runterfahren – ohne zu bremsen.

Wer nicht bremst, erwischt nicht jede Kurve

Seine Leistungen werden besser. In jedem Jahr holt er gute Resultate, schnuppert an Weltcuprennen am Podest, wird mehrfacher Schweizer Meister. Caduff, damals mit langen und wilden Haaren, fährt an der WM 2009 auf den 9. Rang. Er war auf dem Weg, ein ganz Grosser im Snowboardgeschäft zu werden. «Aber es scheitert an der Konstanz.» Wer nicht bremst, erwischt eben nicht jede Kurve sauber. Und Caduff hat auch Mühe mit der Selbstinszenierung zwecks Finanzierung. Denn das ist in diesem Geschäft ein wichtiges Puzzleteil. Als erfolgreicher Einzelsportler gehört es dazu, sich selbst zur Schau zu stellen. Er mag das nicht.

Und trotzdem geht seine Karriere steil nach oben. Im Januar 2010 erreicht ein SMS (ja, das gab es damals noch) die Sportredaktion. Absender ist Fabio Caduff. Inhalt: «Hell yeah, Olympia im Sack.» Auf den letzten Drücker schafft er die Olympia-Qualifikation mit einem 7. Rang in Veysonnaz. «Eine Riesenerlösung.» Er hat sein grosses Ziel erreicht.

Am 19. Februar titelt diese Zeitung: «Glück und Pech im Gleichschritt». Caduff peilt am Olympia-Rennen in Vancouver ein Diplom an. Im Viertelfinal scheitert er an den beiden erfahrenen Amerikanern Seth Wescott und Nate Holland. Im Nachhinein kann man sagen, dass er seinen wilden und riskanten Fahrstil für einmal etwas drosselte und es deswegen nicht unter die besten zehn reicht. Am Ende ist es der 13. Rang. Es gibt kein Diplom. Caduff meint heute dazu: «Der Schnee passte nicht zu meinem Fahrstil. Ich war enttäuscht, weil ich nicht meine beste Leistung abrufen konnte.» Die Sportart Snowboardcross zeigt sich unbarmherzig unberechenbar: Denn neben Können braucht es eben auch Glück.

Einsam an Olympia

Glücklich war er trotzdem. «Die Vorbereitung war fast schon meditativ. Wir hatten im Hotel weder Handy-Empfang noch Internet. Das war cool, so etwas zu erleben.» Der soziale Caduff musste seine Olympia-Erinnerungen grösstenteils alleine erleben. Er war der einzige Schweizer Snowboardcrosser in Vancouver. «Ich habe die Rennen und die Erlebnisse immer gerne mit den Snowboardfreunden geteilt und abends dann ein wenig Rambazamba gemacht», erklärt er lachend. Im Olympia-Dorf war der einzige «Crosser». 72 Stunden lang, dann musste er wieder abreisen. Immerhin: Vier Snowboard-Frauen aus der Schweiz waren am Start, und am letzten Abend konnte er doch ein wenig feiern.

An Olympia macht er ein Selfie mit Snowboard-Superstar Sean White. Und er trifft die damalige Bundesrätin Doris Leuthard. «Leuthard hat ihre Blumen oft im Floristenladen meiner Mutter in Anglikon gekauft, deswegen kannte ich sie schon.»

Das Drumherum an Olympia in Vancouver war eindrücklich. «Eine gigantische Sportparty», wie er es beschreibt. Etwas ist dem umweltbewussten Freiämter aber aufgefallen: «Es hatte keinen Schnee in Vancouver. Die haben aus dem ganzen Land den Schnee dahin getuckert. Das war eher unverhältnismässig.»

Rücktritt und wieder zurück zum Handball

Caduff ist berühmt für Aussagen, die Pfeffer drinhaben. Als er 2012 vom Spitzensport zurücktritt, spricht er offen über die Missstände beim Verband – allerdings ohne sauer zu sein. Caduff wird 2012 Schweizer Meister (und trägt dabei einen Anzug). Und er ist trotz mässiger Saison der beste Snowboardcrosser im Land. Mit Abstand. Und trotzdem setzt der Nationaltrainer auf die jungen Fahrer und streicht Caduff aus dem Kader. Jener Caduff, der ein paar Monate vorher noch an den gigantischen «X-Games» war (Teilnahme nur durch Einladung), wird unverständlicherweise geschnitten. Für den harmoniebedürftigen Caduff war das trotzdem «total okay». Er gibt mit 27 Jahren seinen Rücktritt, setzt auf den Job und bildet sich bei seinem Arbeitgeber, der Cellpack AG in Villmergen, weiter.

Sein Fazit der Karriere: «Es war geil. Ich habe viel erlebt, viele Länder gesehen und Freunde gewonnen. Ich habe unheimlich viel fürs Leben mitgenommen. Im Freiamt habe ich immer grosse Rückendeckung gespürt, dafür war ich allen dankbar. Ich bin und bleibe aber ein Junge aus Anglikon und habe mir auf meine sportlichen Leistungen nie etwas eingebildet.» Zu seinen Erfolgen sagt der vierfache Schweizer Meister: «In der Schweiz der Beste. International ein Niemand.» Lachend schiebt er hinterher: «Ich habe zehn Jahre Spitzensport gemacht und war nie verletzt. Eigentlich ist das mein grösster Erfolg.» Er ging 2012 zurück zu Handball Wohlen, spielte in der 2. Liga – und wirbelte mit seiner Schnelligkeit als Flügelspieler die gegnerischen Abwehrreihen durcheinander.

Eigene Piste ums Haus

Jetzt konnte er wieder wild sein und frei den Berg runterbrettern. Das, was er eigentlich immer wollte. Sponsoringanlässe, Inszenierung in den sozialen Medien, Finanzpläne für die vielen Fernreisen, das war alles nicht seine Welt. In seiner letzten Saison verbringt er 100 Tage im Schnee, nach seinem Rücktritt waren es noch zwei Tage. Heute ist er froh, wenn er ab und zu auf das Snowboard stehen kann. «Qualität vor Quantität», nennt Caduff das. Wenn es viel Schnee hat, wie im vergangenen Winter, dann baut er eine Piste um sein Haus und fährt in einem Zug mehrere Male rundherum.

Er hat heutzutage weniger Zeit für den Wintersport. Als Geschäftsführer der «Howatec», als Montagabend-Biker, als Athletiktrainer der Wohler Eishockeyaner. Und als stolzer Papa. Im September 2020 brachte seine Partnerin Jasmin Schmid den kleinen Curdin zur Welt. «2020 war besser als das Olympiajahr 2010», sagt der stolze Papa.

Caduff ist und bleibt ein Unikum. Ein Mensch und Sportler, der immer Vollgas gibt. Ohne zu bremsen. Am Ende des Gesprächs rückt er aber mit der Wahrheit heraus: «Auch wenn es niemand glauben mag, aber ein wenig Vernunft fuhr immer mit.» Es erscheint am Ende dieses Textes klar: Dieser Fabio Caduff ist auch heute noch eine Schlagzeile in der Zeitung wert.


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